Süddeutsche Zeitung

Armutsdiskussion in Deutschland:"Die Tricksereien machen mich fassungslos"

Der Politologe Klaus Schroeder von der Freien Universität Berlin über Armut in Deutschland, das Anspruchsdenken des Mittelstands - und die Tricksereien der Bundesregierung.

Hans von der Hagen

Klaus Schroeder ist Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat der FU Berlin. Er beschäftigt sich im Rahmen dieser Tätigkeit auch mit der Entwicklung Deutschlands in den vergangenen Jahren sowie mit der Entwicklung von Armut und Reichtum. 2006 veröffentlichte er das Buch: "Die veränderte Republik - Deutschland nach der Wiedervereinigung".

sueddeutsche.de: Seit Jahren heißt es, dass die Mittelklasse in Deutschland abrutscht. Wann ist es soweit?

Klaus Schroeder: Das Ausmaß und die Entwicklung von Armut in Deutschland werden gerne dramatisiert. Doch das ist nicht gerechtfertigt. Unter dem Strich schwankt die Armutsgefährdung zwar etwas, aber sie ist seit Anfang der neunziger Jahr nur leicht gestiegen.

sueddeutsche.de: Wer dramatisiert? Ist es die Bundesregierung?

Schroeder: Zum Beispiel: Schauen Sie sich nur den jüngsten Armutsbericht der Regierung an: eine Katastrophe. Er sagt fast nichts zur Sache. Es wird mit Tricks gearbeitet, die mich fassungslos machen. Es heißt dort, dass diejenigen arm sind, die nur über 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügen. Das sind für einen Alleinlebenden 781 Euro netto im Monat. Im gleichen Bericht heißt es, dass Personen als reich gelten, wenn sie das Doppelte des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. Im Bericht der Bundesregierung und des zuständigen Ministers Olaf Scholz wird hierfür ein Betrag von 3418 Euro monatlich netto genannt. Doch wenn 781 Euro 60 Prozent des mittleren Einkommens sind, liegt das Doppelte bei gut 2600 Euro. Das ist jedoch kein Rechenfehler, man hat einfach die Daten aus unterschiedlichen Erhebungen und Jahren vermengt. Hierdurch wurde das Verhältnis zwischen "Arm" und "Reich" künstlich überdehnt. So wird der Öffentlichkeit suggeriert, dass es eine große Differenz gibt. Diese Trickserei halte ich für skandalös.

sueddeutsche.de: Welches Interesse soll die Regierung haben, die Lage zu dramatisieren?

Schroeder: Zumindest Scholz möchte hiermit seine Forderungen nach der Einführung eines Mindestlohns und nach mehr Umverteilung begründen. Das geht nur, wenn der Graben zwischen Arm und Reich auch einer breiten Öffentlichkeit als ungerechtfertigt tief erscheint. Darüber hinaus enthält der Bericht nur wenige aussagekräftige Daten über Reichtum. Allerdings fehlt nicht der Hinweis auf die Spitzengehälter von Managern.

sueddeutsche.de: Nochmals: Nimmt Armut in Deutschland zu? Selbst McKinsey befürchtet mittlerweile, dass Teile des Mittelstands abrutschen könnten ...

Schroeder: Nach dem Bericht der Bundesregierung ist die Zahl der von Armut Gefährdeten zwischen 1998 und 2005 nur um einen Prozentpunkt - auf 13 Prozent - gestiegen. Nach anderen Berechnungen liegt der Anteil noch deutlich höher. Doch so schwarz will die Regierung die Situation auch nicht malen. Die ganze Diskussion kreist zudem immer nur um die durchschnittliche Einkommensentwicklung. Dabei werden tiefgreifende soziale Veränderungen in der Gesellschaft, die erhebliche Auswirkungen auch auf die Einkommensverteilung und Armutsgefährdung haben, vergessen: Wir haben im Trend erheblich weniger Erwerbstätige, dafür mehr Rentner, mehr Alleinerziehende sowie mehr Alleinlebende und gerade in den Jahren zwischen 2003 und 2005 mehr Arbeitslose, darunter viele Langzeitarbeitslose. Die Zahl der Unqualifizierten und Zuwanderer, die sich nicht auf dem Arbeitsmarkt behaupten können, hat sich ebenfalls deutlich erhöht. Inzwischen hat sich die konjunkturelle Situation deutlich verbessert und die Zahl der Arbeitslosen ist erheblich zurückgegangen. Das dürfte auch die Armut erheblich verringert haben. Der Mittelstand leidet an hohen Steuern und Sozialabgaben, da vor allem er den Sozialstaat finanziert.

sueddeutsche.de: Wenn wir so tiefgreifende soziale Veränderungen haben, ist die Diskussion um neue Armut offenbar berechtigt. Die Suppenküchen sind voll - das sind doch nicht alles nur Abstauber ...

Schroeder: Wenn die Gesellschaft älter wird und weniger Menschen erwerbstätig sind, sinkt zwangsläufig das durchschnittliche Einkommen. Und wenn vor allem viele Ärmere mehr Kinder bekommen, steigt dann automatisch die Armutsbevölkerung. Unter denjenigen, die im Jahre 2007 Elterngeld bezogen haben, sind sehr viele Hartz-IV-Empfänger oder Personen, die nur ein geringes Einkommen haben. Es ist also auch der Sozialstaat, der die Armutsbevölkerung stabilisiert und erweitert. Es fehlt an Anreizen, sich aus der Zone der Armutsgefährdung herauszubewegen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum der Staat in der Armutsfrage immer vor einem Dilemma steht.

sueddeutsche.de: Aber der Sozialstaat hat sich aus guten Gründen selbst in die Pflicht genommen, den Ärmeren zu helfen. Wie soll denn Ihrer Meinung nach Armut bekämpft werden?

Schroeder: Armut wird meist relativ gemessen und ist letztlich ein statistisches Konstrukt. So ist es schwer, sie zu bekämpfen, denn der Staat steht immer vor einem Dilemma: Er kann die Zahl der Armen nur verringern, indem er die ganz unten liegenden Einkommen nach oben verschiebt, über die Marke von 60 Prozent des mittleren Einkommens. Erhöht er aber beispielsweise den Hartz-IV-Betrag, macht er Arbeit noch weniger attraktiv. Die Leute vergleichen ja: Lohnt es sich zu arbeiten, oder bekomme ich vom Staat die gleiche Summe? Und wenn weniger Leute arbeiten und Sozialleistungen beziehen, müssen diejenigen noch mehr an Steuern und Abgaben zahlen, die arbeiten.

sueddeutsche.de: Wie kommen wir aus dem Dilemma heraus?

Schroeder: Eine auf das ganze Land bezogene relative Armutsschwelle kann Armut nicht abbilden, weil die Unterschiede regional groß sind. Ein Betrag, der in der Niederlausitz oder in Ostfriesland allemal zum Leben genügt, reicht in München oder Stuttgart nicht annähernd. Wir müssten stattdessen wissen, wie viel Geld die Menschen brauchen, um an ihrem Ort vernünftig am Leben der Gesellschaft teilhaben zu können und danach Sozialleistungen regional staffeln. Vor allem aber müssen wir Anreize schaffen, dass die von Armut Gefährdeten arbeiten und der Staat nur aufstockt, wenn es nötig ist. Hier war Hartz IV ein Schritt in die richtige Richtung, wie der Rückgang der Arbeitslosigkeit belegt.

sueddeutsche.de: Gibt es Untersuchungen dazu?

Schroeder: Nein. Es gibt zwar regionale Armutsberichte, die sind aber auf Bundesländer bezogen und darum nicht hilfreich. Armut in Deutschland ist ein völlig konfuses Thema, weil sich Politik und Wissenschaft nicht einig sind, was gelten soll. Das reale Leben der Menschen wird nicht abgebildet, mit Schwarzarbeit umd privaten Geldgeschenken zum Beispiel. Viele Menschen sind zwar der Statistik nach arm, tatsächlich aber leben sie nicht schlecht. Genauso birgt es Vorteile, offiziell als alleinerziehend zu gelten. In einigen ostdeutschen Ländern wie Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern liegt die Rate der unehelich geborenen Kinder mittlerweile bei mehr als 60 Prozent. Ob tatsächlich so viele Frauen alleinerziehend sind, wage ich zu bezweifeln. Ein Teil von ihnen geht sicherlich sehr "rational" mit sozialstaatlichen Angeboten um.

sueddeutsche.de: Was soll das heißen?

Schroeder: Der Sozialstaat schafft Anreize, sich so zu verhalten, dass man offiziell als arm gilt. Tatsächlich aber sind viele Leute nicht arm, weil etwa bei angeblich Alleinerziehenden womöglich ein Partner da ist, der Geld verdient. Zusammengenommen würden beide nicht als arm gelten. Genauso lohnt sich eine Trennung, wenn einer der Partner arbeitslos wird. Zugespitzt könnte man formulieren: Der Sozialstaat fördert nicht gerade das Zusammenleben und Heiraten von Menschen. Das Problem ist dabei: Es sind nicht einzelne, die diese Lücken im System ausnutzen. Es sind Hunderttausende, die den Sozialstaat in ihr persönliches Kalkül einbeziehen.

sueddeutsche.de: Widerspricht es nicht auch jeder Lebenserfahrung, die Armutstatistik allein auf angebliche Missbrauchsfälle zu reduzieren?

Schroeder: Im vorletzten Armutsbericht gab es eine Studie, in der versucht wurde, die Bedürfnisse für ein angemessenes Leben etwas aufzuschlüsseln. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, lag die Zahl der Armen dort bei fünf bis sieben Prozent der Bevölkerung. Das halte ich für eine realistische Zahl.

sueddeutsche.de: Gibt es Trends in der Armutsentwicklung, die von allen Sozialforschern als richtig akzeptiert werden?

Schroeder: Nein. Diejenigen, die sich dem linken Spektrum zugehörig fühlen, sehen immer einen Anstieg der Armut - die andere Seite wiederum, vor allem liberale Ökonomen, tun sich schwer damit, überhaupt Armut zu erkennen.

sueddeutsche.de: Wo stehen Sie?

Schroeder: Ich versuche einen ausgewogenen Standpunkt zu vertreten: Ja, es gibt ein gewisses Ausmaß an Armut, es ist aber nicht so dramatisch wie oft dargestellt.

sueddeutsche.de: Viele von den Armen sehen oft keinen Ausweg mehr: Wer einmal unten, kommt nur schwer wieder nach oben, vor allem wenn er älter ist ...

Schroeder: Es ist in der Tat schwer geworden, hierzulande sozial aufzusteigen. Genau das hatte die alte Bundesrepublik stabil gemacht. Leute konnten weiterkommen: In der Bildung, im Beruf, beim Einkommen. Das ist in den letzten 20 Jahren verloren gegangen. Zugleich gibt es aber auch ein seltsames Anspruchsdenken: Der Staat soll jedem dauerhaft ein Leben auf hohem Niveau sichern. Sozialpolitik aber ist als Mittel zur Selbsthilfe gedacht: Die Leistungen des Staates sollten einem nur ermöglichen, rasch wieder von eigenem Einkommen zu leben.

sueddeutsche.de: Was hat die Lage im Vergleich zur früheren Bundesrepublik verändert?

Schroeder: Es sind mehrere Faktoren: Die Wiedervereinigung hat massive finanzielle Belastungen mit sich gebracht. Noch immer gehen vier Prozent des Bruttosozialproduktes als Transferleistungen von West nach Ost - das sind etwa 100 Milliarden Euro jährlich. Im Osten hat es dadurch eine beispiellose Wohlstandsvermehrung gegeben, im Westen entsprechende Wohlstandsverluste. Deutschland hat aber durch die Vereinigung auch wichtige Reformen verschlafen. Das führte zu stagnierendem Wirtschaftswachstum. Daneben haben die vielen Zuwanderer aus bildungsfernen Schichten die Republik verändert: Wir hätten sie viel mehr fördern müssen, stattdessen haben wir politisch und gesellschaftlich nach den alten Mechanismen weitergelebt - und nicht begriffen, dass wir mittlerweile ganz andere Probleme haben.

sueddeutsche.de: Früher reichte meist ein Verdiener, um eine Familie zu finanzieren. Heute müssen oft beide Partner arbeiten. Und manche haben zwei Jobs, um über die Runden zu kommen. Das macht man nicht aus Spaß ...

Schroeder: Es ist vor allem ein Anspruchsproblem, nicht zuletzt in der Mittelschicht. Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich, wenn ich an meine eigene Kindheit denke, sehr viel verändert. Mein Vater war bei der Bundesbahn. Bei uns gab es einmal in der Woche Butter, einmal Fleisch. Das war in den frühen sechziger Jahren Mittelschicht. Heute stehen zwei Autos vor der Tür und Fernseher in allen Zimmern.

sueddeutsche.de: Nur ein Anspruchsproblem? Schon die Kinderbetreuung kostet ein Vermögen ...

Schroeder: Ich will Ihnen nicht grundsätzlich widersprechen, es gibt auch in der Mittelschicht große Differenzen. Es stellt sich aber immer die Frage nach den materiellen Ansprüchen an das Leben. Wenn ich Familien sehe, die mit zwei Kindern und 4000 Euro netto nicht klarkommen, frage ich mich: Wo soll das Geld denn herkommen? Die Ansprüche sind schneller gestiegen als der Wohlstand, das kann nicht funktionieren.

sueddeutsche.de: Ist Pessimimus in Deutschland stärker als anderswo verbreitet?

Schroeder: Ich glaube ja. Das war schon zu Zeiten der Friedensbewegung so. Nicht umsonst gibt es im angelsächsischen Raum den Begriff von der German Angst. Deutschland steht im europäischen Umfeld im Armutsvergleich und in der Einkommensverteilung gut da, trotzdem gibt es hier die größte Unsicherheit und Angst vor Veränderung.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.193110
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
sueddeutsche.de/jja
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.