Wer ist reich in dieser Gesellschaft, und wer ist arm? Der Armutsbericht der Bundesregierung versucht, alle vier Jahre auf diese Frage eine statistisch begründete Antwort zu geben. So viel kann man sagen: Auch in diesem Jahr ist dieser Versuch gescheitert. Das liegt am Vorhaben und nicht etwa an den Autoren. Sie befinden sich auf einer mission impossible.
Denn es ist unmöglich, die Grenze zwischen arm und gut situiert, zwischen wohlhabend und vermögend, reich und superreich zu ziehen. Solche Definitionsfragen lenken nur vom eigentlichen Thema ab, nämlich der Fähigkeit des Staates, für Bürger in materieller und existenzieller Not zu sorgen. Denn für einen funktionierenden Sozialstaat ist nicht allein ausschlaggebend, wie viel Vermögen vorhanden ist, sondern auch, wie dieses Vermögen zustande kommt.
Grob gesprochen, ist unsere allgemeine Einschätzung von Armut fest verbunden mit einer Zahl. Sie stammt aus der Welt der Steuern und lautet 8004 Euro. Dieser Betrag ist für den Fiskus tabu, darauf muss keiner Steuern zahlen. Er ist die gesetzlich festgelegte Summe, die der Mensch im Jahr braucht, um sich die notwendigsten Dinge des Lebens zu kaufen.
Crux bei der Bemessung von Armut
Landläufig würde man wohl jeden als arm bezeichnen, der weniger verdient. Doch daran offenbart sich die Crux bei der Bemessung von Armut. Würde man den Grundfreibetrag auf 10.000 Euro anheben, passierte genau zweierlei: Zum einen müssten alle weniger Steuern zahlen, was ja erfreulich wäre. Die andere Konsequenz aber wäre absolut nicht schön: Durch das Anheben des Freibetrags würde Massenarmut in Deutschland herrschen. Jeder, der weniger als 10.000 Euro im Jahr verdiente, wäre dann nämlich arm - obwohl sich nichts geändert hätte.
Arm waren diese Geringverdiener schon vorher, nur zählten sie eben nicht. Wäre es nicht schön, wenn man sich wenigstens darauf verständigen könnte? Kann man nicht. Wer von 9000 Euro in München, Hamburg oder Köln leben und wohnen muss, ist ärmer als jemand, der auf dem Land lebt, einkauft und Miete zahlt. Weil die Preise in den Städten höher sind, ist dieselbe Summe weniger wert.
Die Einschätzung hängt sehr von der Sichtweise des Betrachters ab. Und so ergeht es einem auch beim Studium des Armutsberichts. Man kann daraus schließen, dass es ungerecht zugeht in unserem Staat, weil die Superreichen immer reicher werden, und die Zahl der Armen trotz Wirtschaftsaufschwung nicht sinkt. Man lernt bei der Lektüre aber auch, dass es die obersten zehn Prozent der Gutverdiener sind, die in diesem Jahr weit mehr als 50 Prozent der Lohn- und Einkommensteuer von 200 Milliarden Euro tragen. Völlig daneben liegt aber, wer aus beiden Erkenntnissen folgert, alles wäre gut, wenn die Reichen 60 Prozent zahlten.
Die Diskussion über mehr Gerechtigkeit muss anders geführt werden. Es geht im Kern um die Frage, wie die sozialen Sicherungssysteme finanziert werden. Denn sie sind es, die den Unterschied machen und Menschen in der Not helfen.
Seit jeher werden die Sozialbeiträge abhängig vom Arbeitslohn gezahlt. Wer in den 60er-Jahren wohlhabend war, hatte sich das Geld meist erarbeitet. Doch haben sich die Zeiten geändert. Die Erbengeneration ist angetreten. Ein deutlich höherer Anteil am Volkseinkommen wird inzwischen durch Zinseinkünfte, Mieteinnahmen und Kapitalerträge erwirtschaftet. Auf diese Einkünfte sind aber nur Steuern fällig und keine Beiträge. Der Anteil der beitragspflichtigen Arbeitseinkommen hat sich hingegen verringert.
Das hat Folgen. Von dem derzeitigen Zwischenhoch einmal abgesehen, wird dies dazu führen, dass die Sozialsysteme trotz steigender Beiträge weniger Geld zur Verfügung haben. Die Alterung der Gesellschaft wird diesen Effekt noch einmal beschleunigen. Das führt zwangsläufig zu Kürzungen im System, die eben vor allem zu Lasten der Armen gehen.
Ausweg aus dem Dilemma: Die Haushaltspolitik
Es sei denn, es gibt einen Ausweg aus diesem Dilemma, eine Möglichkeit, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Und tatsächlich gibt es diese Alternative. Es ist die Haushaltspolitik.
Ein Bundeshaushalt, der über Jahre praktisch ohne neue Schulden auskommt, wäre ein Garant für eine gute Sozialpolitik. Denn so ist der Staat in der Lage, die sozialen Sicherungssysteme zu stützen, ohne den Hilfsbedürftigen mehr zuzumuten. Er wäre in der Lage zu verhindern, dass es den Armen schlechter ginge.
Die Deutschen können selbst entscheiden, wie man den Haushalt ins Plus bringt, durch Einsparungen oder höhere Steuern, durch soziale Kürzungen oder etwa den vollen Mehrwertsteuersatz für Hoteliers: Indem sie das Thema endlich einmal bei Bundestagswahlen einfordern.