Süddeutsche Zeitung

Armut:Den Menschen eine Chance geben

Hartz-IV-Empfänger, Geringverdiener, Minijobber: Die Armut ist in Deutschland ein weit verbreitetes Phänomen - und eines, das nicht nur eine politische Lösung fordert. Was die Unternehmen tun können, um die Lage zu verbessern.

Von Francesca Polistina

Armut ist sicherlich kein bequemes Thema, aber eines, das dringend diskutiert werden muss. Denn in Sachen Armut liegt das Wohlstandsland Deutschland im EU-Vergleich im letzten Drittel, was konkret bedeutet, dass es hierzulande mehr arme Menschen gibt als im europäischen Durchschnitt.

Armut ist ein relativer Begriff, der von der Situation der jeweiligen Länder abhängt. Er umfasst diejenigen, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben - ein Gradmesser für die Gleichheit in einer Gesellschaft. Deutschland steht dabei nicht ganz so gut da. 24 Prozent der Bevölkerung waren laut Statistischem Bundesamt von Armut gefährdet. Die Diskussionen um die Anhebung des Mindestlohns und der Verdienstgrenze für den Minijob sind in diesem Kontext zu lesen. Aber ist nur die Politik dafür verantwortlich? Oder gibt es andere Akteure, die auch etwas Konkretes tun könnten?

Jedes Mal, wenn von Minijobbern, Geringverdienern und Hartz-IV-Empfängern die Rede ist, wird nach der Bundesregierung gerufen. Das Thema ist politisch brisant, aber es gibt durchaus Dinge, die auch die Firmen selbst machen könnten. Zum Beispiel: "Den Langzeitarbeitslosen eine Chance geben", wie es Enzo Weber, Wirtschaftswissenschaftler am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg (IAB), formuliert. Das wäre auch in Anbetracht der Arbeitskräfteknappheit in vielen Branchen sinnvoll.

In der Praxis haben Unternehmen damit schon positive Erfahrungen gemacht: "Wir sehen aus den Befragungen, dass die Betriebe, die Langzeitarbeitslose einstellen, über die Leistungsfähigkeit dieser Menschen ein deutlich besseres Urteil haben als diejenigen, die hingegen keine Langzeitarbeitslosen einstellen", sagt Weber.

Betroffene, die in der Langzeitarbeitslosigkeit feststecken, fehlt es oft auch an Selbstvertrauen und dem Mut, auf Unternehmen zuzugehen. Häufig scheitere eine Festanstellung an Hürden wie geringer Qualifikation, mangelnden Sprachkenntnissen oder gesundheitlichen Problemen, so Weber. Trotzdem lohne es sich, diesen Weg auszuprobieren - zumal es für Firmen unterstützende Instrumente von der Agentur für Arbeit gebe, zum Beispiel die Lohnkostenzuschüsse.

Die Corona-Krise hat die Trennung zwischen gut und schlecht bezahlten Jobs verfestigt

Daneben sei auch die Aus- und Weiterbildung eine wichtige Aufgabe, um Menschen eine neue Perspektive zu geben: "Unternehmen haben manchmal nicht die Kapazitäten, umfangreiche Ausbildungsprogramme anzubieten. Auch da gibt es Unterstützung vonseiten der Jobcenter", sagt Weber.

Niederschwellige, in Modulen strukturierte Qualifizierungsprogramme seien notwendig, meint der Ökonom. Davon profitiere am Ende die gesamte Wirtschaft: "Ein großer Niedriglohnsektor wie in Deutschland, in dem sich die Menschen nicht weiterentwickeln, sondern nur in Minijobs sind, hilft weder der Beschäftigung noch der Produktivität eines Landes", sagt Weber.

Zirka 20 Prozent der Beschäftigten in Deutschland sind im Niedriglohnsektor tätig, das bedeutet jeder Fünfte geht einem Job nach, der kaum zum Leben reicht. In den EU-Ländern liegt die Quote durchschnittlich bei 15 Prozent, im Nachbarland Frankreich bei nicht mal neun Prozent.

Während der Pandemie gab es deutlich weniger Einstellungen

Dass das Thema aktueller denn je erscheint, hat auch mit der Pandemie zu tun. Durch Maßnahmen wie das Kurzarbeitergeld, das massiv eingesetzt wurde, konnten viele Stellen gerettet werden. Mit Erfolg - allerdings nicht für alle. "Die Corona-Krise war nicht in erster Linie eine Entlassungskrise, aber eine Krise, die die Unterschiede zwischen sozial versicherten Beschäftigten und Minijobbern oder Arbeitslosen verfestigt hat", so Weber. Denn insgesamt gab es deutlich weniger Einstellungen als sonst, und etliche Minijobs gingen verloren.

Nun will die Ampel-Koalition den Mindestlohn auf zwölf Euro und die Einkommensgrenze für Minijobber auf 520 Euro anheben, doch aus Sicht des Ökonomen sei letztere Maßnahme nicht richtig: "Diese steuerliche Begünstigung von kleinen Jobs wird dadurch aufrechterhalten. Aber begünstigt man da die richtigen Jobs?", fragt er, "sollte man nicht eher versuchen, sozialversicherungspflichtige Stellen zu fördern?"

Die Inflation macht sich vor allem bei geringem Einkommen bemerkbar

Auch für Alexander Kriwoluzky lautet das Schlüsselwort: "Bildung, Bildung, Bildung", selbst in den Unternehmen. Kriwoluzky ist Makroökonom am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung mit Sitz in Berlin (DIW) und forscht zu Themen wie Geldpolitik und Inflation. Vor allem wegen der Inflation ist er derzeit gefragt. Denn diese ist in Deutschland mit 4,5 Prozent im Oktober so hoch wie seit Anfang der Neunzigerjahre nicht.

Für den Experten besteht aktuell kein "Grund zu Panik", denn schließlich sei die steigende Inflationsrate auch auf die Wiederanhebung der Mehrwertsteuer zurückzuführen, nachdem sie coronabedingt gesenkt wurde. Kriwoluzky erwartet nicht, dass eine Inflationsrate von mehr als vier Prozent in Deutschland andauern wird, wohl aber, dass die Energiepreise, die die Inflation nach oben treiben, mindestens bis zum nächsten Frühjahr hoch bleiben. Und genau hier liegt das Problem: "Eine Inflation, die durch die Energiepreise getrieben wird, macht sich vor allem bei den Ärmeren bemerkbar", so Kriwoluzky, weil eben diese Menschen für Strom, Gas und Benzin einen höheren Anteil ihres Geldes ausgeben.

Maßnahmen, um die Armut und den Niedriglohnsektor zu reduzieren, sind demnach dringend gefragt - auf politischer wie auf betrieblicher Ebene. "Ein wichtiger Bestandteil des Lohns ist die Arbeitsproduktivität: je höher die Arbeitsproduktivität, desto höher der Lohn", erklärt Kriwoluzky einen ökonomischen Zusammenhang. Je mehr die Unternehmen investieren, desto mehr steigt die Produktivität der Beschäftigten. Mit Investitionen sind dabei nicht nur neue Technologien gemeint, sondern eben auch Bildungsprogramme. "Bildung ist die beste Möglichkeit, um aus der Armut herauszukommen", sagt der Ökonom.

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