Süddeutsche Zeitung

Armut:"Weil noch weniger einfach nicht mehr geht"

Ärmere Menschen wissen nicht mehr, wie sie ihre Rechnungen und Einkäufe bezahlen sollen. Experten sind alarmiert - doch richtige Hilfe ist nicht in Sicht.

Von Helena Ott und Nils Wischmeyer

Es war die Krönung. Nicht irgendeine, nein, die von Jacobs. In seiner Kindheit war Jacobs eine Marke, die für Qualität stand, erzählt Joachim L. Der Mann trägt Fleecepullover über rotem T-Shirt in seiner Wohnung in Nordrhein-Westfalen. Draußen regnet es. Die Brille baumelt L. um den Hals, manchmal schiebt er sie zum Lesen auf die Nase. Zum normalen Preis kann er sich die "Krönung" nicht leisten, das weiß L., längst abgehakt. Seit einem Schlaganfall bezieht er Grundsicherung, und die reicht, so sagt er selbst, eben nur für grundlegende Bedürfnisse, wenn überhaupt. Also gab es den Markenkaffee eben nur aus dem Angebot. Manchmal fielen die Preise auf 3,39 Euro oder sogar 3,29 Euro. Dann kaufte er eine vakuumierte Packung Kindheitserinnerung.

Im Spätsommer 2022 gab es wieder Sonderangebote, nur dieses Mal für fünf Euro. Eine Ausnahme? Joachim L. wartete, aber die Preise fielen nicht. Nicht beim Kaffee, nicht bei der Butter, und langsam wurde ihm klar, dass es jetzt Ausdauer braucht, das durchzuhalten. Für Trinken und Essen sind auch im neuen Regelsatz der Grundsicherung weniger als 200 Euro im Monat vorgesehen. Sich damit halbwegs gesund und ausgewogen zu ernähren, war schon vor der Inflation ein Balanceakt. Ende 2022 erscheint es Menschen wie Joachim L. unmöglich.

Die Zahlen sind dramatisch: Fast ein Drittel der Deutschen war 2021 laut Statistischem Bundesamt nicht in der Lage, spontan zusätzliche Ausgaben von 1150 Euro und mehr zu stemmen. Sie lebten "schon vor der Pandemie von der Hand in den Mund", sagt Dorothea Mohn, Finanzexpertin bei der Verbraucherzentrale in Berlin. Dieses fehlende Polster gibt ihnen kaum Handlungsspielraum, beobachtet auch Barbara Kremkau. Sie leitet die Schuldnerberatung der Diakonie in Dortmund und sagt: "Es geraten jetzt Leute in finanzielle Not, die vorher nie Unterstützung vom Staat gebraucht haben."

Drei Gruppen hat die Krise besonders getroffen: Die, die als Geringverdiener oder mit Grundsicherung bei den Ausgaben schon immer auf die Bremse treten mussten. Dann jene, die längerfristige Verbindlichkeiten wie Kredite haben. Wegen der Inflation würden jetzt Finanzierungspläne ins Wanken geraten, "an denen vorher nichts auszusetzen war", sagt die Schuldnerberaterin. Denn Mehrkosten für Strom, Gas oder Essen verschlingen Geld, das monatlich für die Raten eingeplant war. Wer einen Ratenkredit längerfristig nicht bedient, "rutscht in die Zahlungsunfähigkeit", sagt Kremkau.

Und schließlich gibt es noch eine dritte Gruppe, die beispielsweise bei Elisabeth Fey von der Seniorenberatung der Caritas in Köln Hilfe sucht: Rentner. Fey berichtet aus ihren Gesprächen mit Menschen, die ihr ganzes Arbeitsleben schon hinter sich haben. "Manche Seniorinnen und Senioren wissen nicht mehr, wie sie Mieterhöhungen, Stromkosten und Nahrung bezahlen sollen."

20 Prozent konnten ihren Kredit nicht bedienen

Manche greifen auf Mittel aus der Nachkriegszeit zurück. So beobachten Sozialverbände wie der VdK oder der Paritätische Wohlfahrtsverband, dass Menschen weniger essen oder heizen, als noch gesund ist. Dazu leidet das Soziale, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Wer kein Geld hat, kauft weniger Bustickets, ist weniger im öffentlichen Raum unterwegs und trifft weniger Freunde oder Bekannte. Joachim L. war früher zwei bis drei Mal im Monat auswärts essen, nichts Großes, einfach nur mal raus. Zwei Mal beim Türken, das Tagesgericht für rund acht Euro, Reis, Fleisch und Gemüse. Und einmal gutbürgerlich, vielleicht auch mal mit zwei Bier, dann für um die 15 Euro. So was erlaubte er sich, wenn ihm zu Hause die Decke auf den Kopf fiel, wenn gar nichts mehr ging. Doch damit ist Schluss. Die Gastronomie hat ihre Preise so angezogen, dass Joachim L. zurückschrauben musste: Einmal Türke im Monat, das muss reichen.

Was die aktuelle Notlage in Zahlen bedeutet, beobachtet etwa die Auskunftei Schufa. Sie hat erhoben, dass im Vergleich zum Vorjahr 20 Prozent mehr Menschen Kredite nicht bedienen konnten oder anderweitig zahlungsauffällig geworden sind. Die Auskunftei Creditreform hält ein Plus von 600 000 Überschuldeten für das kommende Jahr für realistisch. Nach Berechnungen der Creditreform-Tochter Microm sei allein jeder fünfte Haushalt im neuen Jahr gefährdet, die Nebenkostenabrechnungen nicht direkt begleichen zu können. Während die Politik die Bürger weiter zum Energiesparen auffordert, stellen sich die, die eh schon auf der Bremse standen, die Frage: Wo jetzt noch sparen?

Viele leben von Grundsicherung, weil sie krank oder verletzt sind

Joachim L. hat kein großes Interesse an materiellen Dingen, das war schon immer so. Wenn er wenig hatte, lebte er von wenig. Lange arbeitete er als Übersetzer, bis er vor 20 Jahren einen Schlaganfall hatte. Davon blieb ihm eine Lähmung auf der einen Seite und die Einsicht, dass er wohl nicht mehr wird arbeiten können. Seitdem lebt er von Grundsicherung, 449 Euro im Monat. Von Januar 2022 an sollen Alleinstehenden 502 Euro Regelsatz ausbezahlt werden. Die Wohnung und Heizkosten werden L. vom Jobcenter gestellt. Aber für Strom, Telefon, Internetanschluss, Einkaufen, Kleidung und ab und an Ausgehen muss der Regelsatz reichen.

Dennoch reichte es in den ersten Jahren immer irgendwie, da schaffte er es sogar, noch ein wenig zurückzulegen; ein paar Mark hier, später ein paar Euro dort. Schon vor der Krise stiegen die Preise stärker als die Grundsicherung. Das Bürgergeld, das jetzt mitten in der Krise um 50 Euro erhöht wird, gleiche die Mehrkosten nicht aus. "Dann habe ich etwas weniger vom weniger durch die Inflation", sagt Joachim L. mit Blick auf die Preissteigerungen und lächelt verschmitzt. Er mag solche Wortwitze, egal, wie ernst der Inhalt ist. Was er macht, wenn die Preise weiter so hoch bleiben? Noch weniger konsumieren? "Nein", sagt er, "weil noch weniger einfach nicht mehr geht."

Schnelle Kredite lohnen sich vor allem für den Kreditgeber

In normalen Zeiten sind Lebenskrisen wie Scheidung, Krankheit oder Unfälle die Gründe, warum Menschen sich verschulden. Jetzt sind es auch die Nebenwirkungen des russischen Angriffskriegs. Manche Menschen haben den Reflex, die Zahlungsschwierigkeiten mit geliehenem Geld zu überbrücken. Angebote, erst zu konsumieren und später zu zahlen, sind allgegenwärtig. Beim Handy, bei Küchengeräten, Laptops, Autos oder sogar Kleidung. Die Angebote, die man vor allem aus Elektro-Discountern kennt, heißen "Buy now pay later", Ratenkredite oder "Null-Prozent-Finanzierung". Die monatlichen Beträge sehen klein aus, aber man verliert leicht den Überblick, sagt Schuldnerberaterin Barbara Kremkau. "Dieses Mal hier, mal da, ist klassisch bei unserer Klientel." Am Ende bestehe die Gefahr, dass ein Teufelskreis entsteht und Schulden mit Schulden bezahlt werden.

Richtig teuer wird es bei der niedrigschwelligsten Kredit-Spezies, dem Dispo auf dem Girokonto. Dorothea Mohn von der Verbraucherzentrale warnt, dass auf dem Girokonto meist die höchsten Zinsen verlangt würden. Nach einer Untersuchung der Zeitschrift Finanztest reichten die Dispozinsen 2022 von vier bis knapp 15 Prozent. Eine weitere Warnung spricht Dorothea Mohn vor "ominösen Kreditanbietern" aus, die für vermeintlich billige Kredite weder eine Schufa-Auskunft noch einen Einkommensnachweis sehen wollen. "Wenn keine Bonitätsprüfung verlangt ist, sollten immer alle Alarmglocken läuten", sagt Mohn. Meistens würden sich solche Geschäfte vor allem für die Kreditgeber lohnen, die sich die Unsicherheit mit hohen Zinsen bezahlen ließen, sagt Barbara Kremkau. "Die machen ihr Geschäft mit der Armut der Leute."

Viele wüssten nicht, was ihnen überhaupt zusteht

Barbara Kremkau fällt es zunehmend schwerer, den Menschen in der Beratung die Ängste zu nehmen. Sie könne auch nicht vorhersagen, wann der Krieg endet und ob die Preise dann sinken. Im kommenden Jahr erwarten Ökonomen keinen zweistelligen Wert mehr, aber rechnen immer noch mit einer Inflation von fünf Prozent. Die Preise steigen also weiter, nur nicht so heftig. "Wir können nur so gut es geht informieren und auf zusätzliche Hilfen aufmerksam machen", sagt Kremkau. Seniorenberaterin Fey beobachtet, dass es älteren Menschen schwerer fällt, staatliche Hilfen in Anspruch zu nehmen, da die Scham bei ihnen größer sei. "Dennoch sollte man, wenn das Geld knapp wird, einen Antrag auf Wohngeld oder Grundsicherung im Alter stellen und seine Rechte geltend machen", sagt sie.

Die Hürden sieht Barbara Kremkau aber auch in fehlender flächendeckender Information. "Das müsste jetzt in die Breite der Bevölkerung kommuniziert werden", sagt sie. Viele wüssten nicht, wann ihnen Wohngeld zusteht, dass manche Städte oder Kommunen, wie München, für armutsbetroffene Menschen zusätzlich Hilfen ausgeben und wie man einen Antrag auf Kinderzuschlag stellt. Barbara Kremkau rät, eine Sozialberatung vom Roten Kreuz, der Caritas, der Awo oder der Diakonie aufzusuchen. "Die können helfen zu gucken, ob wirklich alle Hilfen ausgeschöpft sind." Doch die Schuldnerberaterin kritisiert auch, dass Bund, Länder und Kommunen kaum Geld für Stellen in der Sozialberatung bereitstellen. Für Sozialarbeiter, die helfen, bevor hartnäckige finanzielle Schieflagen entstehen.

Joachim L. kennt sich natürlich aus mit den Anträgen, da ist bei ihm nicht mehr viel zu machen. Und kaufen auf Pump ist keine Option für ihn. "Auf keinen Fall", sagt er. "Ich hatte mal ein paar Schulden und will nie wieder welche machen."

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