Süddeutsche Zeitung

Armut in Deutschland:Falsch berechnet

Der Paritätische Wohlfahrtsverband sieht den Nordosten Deutschlands als Armenhaus. Doch die Realität sieht anders aus, als es die Zahlen vermuten lassen.

Ein Kommentar von Guido Bohsem

Wer mit dem Rad auf der beliebten Strecke von Berlin nach Kopenhagen fährt, kommt auch durch Mecklenburg-Vorpommern. Glaubt man dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, ist die Tour eine ziemlich traurige Angelegenheit. Demnach durchquert man das Armenhaus der Republik, eine Art großflächigen Ostküsten-Slum. Wie die Organisation in ihrem Armutsbericht feststellt, sind nämlich 24 Prozent der Menschen im Nordosten arm oder von Armut bedroht - nur Bremen ist ärmer dran. Jeder durch das Land radelnde Mensch müsste also betroffen in sich gehen und fragen, ob er hier nicht Armutstourismus betreibt.

Übertrieben? Total. Die Zahlen des Paritätischen widersprechen jeder gefühlten Realität. Mecklenburg-Vorpommern ist ein Land, in dem die Radwege besser in Schuss sind als manche Autobahn-Brücke in Westdeutschland. 25 Jahre nach der Wiedervereinigung glänzen die Innenstädte, sind die Dörfer rausgeputzt, die Vorgärten gepflegt. Vor den Häusern stehen Mittelklassewagen. Das Land hat seit langem einen ausgeglichenen Haushalt. So mancher von der Studie zum Armen erklärte Einwohner Mecklenburg-Vorpommerns würde den Autoren des Papiers wohl einen Vogel zeigen.

Wenn Statistik und Realität so sehr in Widerspruch stehen, spricht einiges dafür, dass mit der Statistik etwas nicht in Ordnung ist. Und so ist es auch. Der Verband verwendet bei seinen Berechnungen ein simples Modell. Es ist so einfach, dass es bei der Abbildung eines so komplexen Phänomens wie Armut scheitern muss. Denn Armut wird inzwischen weniger über Geld als über eine würdevolle Teilhabe an der Gesellschaft definiert.

Ansatz führt in die Irre

Im Modell des Wohlfahrtsverbands wird angenommen, dass die Armut bei Menschen anfängt, die weniger als 60 Prozent des mittleren Netto-Einkommens zur Verfügung haben. Dieser Ansatz ist geläufig, aber so derartig grob, dass er völlig in die Irre führt. Angenommen, alle Menschen in Deutschland würden auf einen Schlag 100 Mal so viel verdienen wie bisher. Der Wohlstand würde explodieren. Das Land und seine Einwohner wären reicher als jeder andere Staat der Welt. Doch nach den Zahlen des Paritätischen ginge es uns kein bisschen besser. Noch immer läge die rechnerische Armutsquote bei 15,5 Prozent. Der Grund: Am 60-Prozent-Verhältnis zwischen arm und reich hätte sich nichts verändert.

Auch unterscheiden sich die Lebensumstände der angeblich von Armut betroffenen Menschen erheblich. So gelten neben Hartz-IV-Empfängern auch Studenten als arm. In der Tat verdienen Hochschüler wenig, sie werden aber mit hoher Wahrscheinlichkeit nach ihrem Studium zu den Gutverdienern der Gesellschaft gehören. Es gibt viel zu beklagen an deutschen Unis. Aber niemand würde ernsthaft behaupten, sie würden nur von Armen besucht.

Völlig wertlos sind die errechneten Zahlen indes nicht. Sie sagen etwas über die Ungleichheit in der Gesellschaft. Im aktuellen Fall zeigen sie, dass die Löhne der allermeisten Menschen in Deutschland deutlich zugenommen haben, die Transferleistungen des Staates womöglich aber nicht entsprechend angepasst wurden. Auch das kann man aus gutem Grund beklagen. Es ist aber etwas völlig anderes als zu behaupten, die Armut in Deutschland habe zugenommen.

Schon seit Jahren kritisieren Statistiker deswegen den Armutsbericht des Paritätischen aus diesen Gründen. Es stellt sich die Frage, warum der Wohlfahrtsverband sie trotzdem jedes Jahr weiter publiziert. Die Antwort ist einfach - die Zahlen stützten seine Mission. Etwas böser kann man auch sagen: seinen Geschäftszweck.

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SZ vom 21.02.2015/hgn
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