Süddeutsche Zeitung

Armut in den USA:Das verlorene Jahrzehnt

Die Armut in den USA steigt auf den höchsten Stand seit 1994. Besonders bei Kindern ist die Situation dramatisch. Und auch andere Wirtschaftsdaten bereiten große Sorgen.

Nikolaus Piper

Die Rezession hat die Armut in den Vereinigten Staaten auf den höchsten Stand seit 1994 getrieben. Wie das US-Zensusbüro mitteilte, lebten im vergangenen Jahr 43,6 Millionen Amerikaner, oder 14,3 Prozent der Bevölkerung, unter der Armutsgrenze. 2008 waren es noch 13,2 Prozent gewesen. Besonders betroffen sind die Jüngsten: Über ein Fünftel aller Kinder lebt danach in Armut. Die Armutsgrenze für eine vierköpfige Familie liegt derzeit bei einem Jahreseinkommen von 21.954 Dollar. Dazu kommen allerdings in der Regel Hilfen vom Staat. 41,3 Millionen Amerikaner erhalten derzeit Lebensmittelmarken, mit denen sie kostenlost einkaufen können.

In diesen Zahlen steckt eine gute und eine schlechte Nachricht. Zunächst die gute: Gemessen an der Schwere der Rezession und der hohen Arbeitslosigkeit ist der Anstieg der Armut relativ moderat ausgefallen. Bei der bis dahin schwersten Nachkriegsrezession 1980 bis 1982 gingen die Einkommen um 6,0 Prozent zurück, diesmal waren es nur 4,2 Prozent. Das dürfte zum Teil auf das Konjunkturprogramm von Barack Obama zurückzuführen sein. Die Zahlen zeigten, erklärte das Weiße Haus jedenfalls, dass dank des Programms "Millionen Amerikanern die Armut erspart geblieben" sei.

Die schlechte Nachricht: Anders als bei früheren Rezessionen kommt der Anstieg der Armut diesmal nicht nach einer Reihe sehr guter Jahre, sondern nach einem Jahrzehnt, in dem die Einkommen der Durchschnittsamerikaner kaum gestiegen, für viele sogar gefallen sind. Das macht die politische und soziale Brisanz der Situation aus. Das Wall Street Journal spricht von einem "verlorenen Jahrzehnt" für die amerikanische Mittelschicht. Das mittlere Familieneinkommen ging von 2000 bis 2009 um 4,8 Prozent zurück, und dies trotz eines kräftigen Aufschwungs zu Beginn des Jahrzehnts. Die Aussicht auf Besserung ist gering. Dies erklärt zum Teil die Wut vieler Amerikaner, die sich gegen den Präsidenten und die Demokraten richtet.

Warum die vergangenen zehn Jahre für die Mittelschicht so schlecht waren, ist unter Experten umstritten. Eine wichtige Rolle dürften Mängel im amerikanischen Schulsystem spielen. Viele Arbeitnehmer sind auf den schnellen Strukturwandel in der amerikanischen Wirtschaft schlecht vorbereitet. Die Spitzeneinkommen wurden durch die Steuerpolitik von Präsident George W. Bush begünstigt, die Normalverdiener profitierten davon kaum. Die Stagnation der Einkommen ist auch eine der Ursachen der Finanzkrise. Viele Familien versuchten, ihren Lebensstandard dadurch zu halten, dass sie eine Hypothek auf ihr Eigenheim aufnahmen. Die Niedrigzinspolitik der Notenbank Federal Reserve begünstigte diesen Trend. Jetzt sind viele dieser Haushalte überschuldet.

Junge Menschen haben Schwierigkeiten, nach der Schule oder dem College auf dem heutigen Arbeitsmarkt einen Job zu finden. Als Konsequenz bleiben sie im Elternhaus oder ziehen dort sogar wieder ein. Die Zahl der 25- bis 34-Jährigen, die bei ihren Eltern wohnen, stieg gegenüber 2008 um 8,4 Prozent auf 5,5 Millionen. Einige Familien versuchen, das Armutsproblem dadurch zu lösen, dass sie mit anderen zusammenziehen; daher stieg die Zahl der Mehrfamilienhaushalte in der Krise um 11,6 Prozent. Gesunken ist das Armutsrisiko dagegen für ältere Amerikaner, vor allem weil sie Rente bekommen und auf andere staatliche Leistungen zurückgreifen können.

Im Zuge der Rezession ist auch die Zahl der Amerikaner ohne Krankenversicherung um 1,3 Prozent auf den Rekordstand von 50,7 Millionen gestiegen. Wegen der Gesundheitsreform von Präsident Obama dürfte sich der Trend aber demnächst zum Besseren wenden. Die Unterschiede zwischen hohen und niedrigen Einkommen waren in den vergangenen zehn Jahren stark gestiegen; in der Rezession hat sich die Schere aber nicht weiter geöffnet. Dafür ist das Armutsrisiko zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen weiter ungleich verteilt. Ein Viertel aller Schwarzen und Menschen mit lateinamerikanischem Hintergrund sind arm, aber nur zwölf Prozent der Weißen und der Asiaten.

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SZ vom 18.09.2010/aum
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