Süddeutsche Zeitung

Corona-Pandemie:Globale Armut steigt dramatisch an

Mit Wucht trifft die Pandemie die Ärmsten der Welt - während die Börsenkurse schon wieder steigen. Die Seuche verschärft so die globale Ungleichheit. Kinder trifft es besonders.

Von Bastian Brinkmann und David Pfeifer, Bangkok

Die Schwächsten erwischt es immer zuerst. Die Corona-Pandemie trifft jene am härtesten, die sich am wenigsten wehren und kaum protestieren können: Kinder. Darauf weist die Nichtregierungsorganisation Oxfam in einem neuen Bericht hin - und darauf, dass die Seuche die Ungleichheit auf der Welt verschärft: Im Corona-Jahr 2020 mussten Kinder in den ärmsten Ländern der Welt auf vier Monate Schule verzichten, während es in wohlhabenden Ländern nur vier Wochen waren, jeweils im Durchschnitt. Geschätzte 33 Millionen Kinder, Jugendliche und Studierende haben wegen der Pandemie ihren Bildungsweg ganz abgebrochen, vor allem in ärmeren Ländern - also ausgerechnet dort, wo Bildung so dringend nötig wäre im Kampf gegen die Armut.

Bis zum Ausbruch von Covid-19 war die Welt in diesem Kampf auf einem guten Weg. Auch wenn es vielen zu langsam ging, die Richtung stimmte: Seit 1999 hat sich die Zahl der Menschen in extremer Armut weltweit um etwa eine Milliarde verringert. Als extrem arm gelten Personen, die weniger als 1,90 Dollar pro Tag zur Verfügung haben. Jahr um Jahr sank ihre Zahl, durch die Seuche und ihre Folgen steigt sie nun wieder. Das ist eine beispiellose Abkehr vom bisherigen Trend und der erste Anstieg seit der Währungskrise in Asien 1998.

Eigentlich hatte die Weltbank erwartet, dass 2020 die Zahl der extrem Armen um 31 Millionen sinken wird. Stattdessen sind geschätzte 88 Millionen Menschen zusätzlich unter die Grenze von 1,90 Dollar gerutscht. Ihre Gesamtzahl ist nun wieder so hoch wie 2015, anders gesagt: Die Pandemie wirft die Welt im Kampf gegen die globale Armut um fünf Jahre zurück.

Am stärksten trifft die neue Armut der Weltbank zufolge Südasien - und damit auch Indien, das mit Abstand bevölkerungsreichste Land der Region. Die Vereinten Nationen zählten Indien neben dem Kongo und Niger schon vor Ausbruch der Seuche zu den Ländern mit der höchsten Zahl an Armen, was man immer an der riesigen Bevölkerung messen muss. Trotzdem galten schon vor der Pandemie 28 Prozent der Inderinnen und Inder als arm, das sind 364 Millionen.

Die einen haben keine 1,90 Dollar am Tag, die anderen 14 Prozent Rendite

Viele Probleme teilen Familien derzeit weltweit. Kitas und Schulen sind geschlossen. Hausunterricht überfordert Eltern und ist für die Ärmeren ohne technisches Gerät meistens nicht möglich. Das betrifft auch die wirtschaftlich Schwachen in wohlhabenden Ländern. In Lateinamerika und der Karibik geht laut den von Oxfam zusammengetragenen Statistiken die Schere so weit auseinander, dass nur etwa 30 Prozent der Kinder aus einkommensschwachen Haushalten überhaupt Zugang zu elektronischen Lehrmitteln haben, in wohlhabenden Haushalten sind es 95 Prozent.

Schulessen ist in vielen Regionen der Welt ein wichtiger Teil der Grundversorgung. Da geht es ums nackte Überleben. Bereits 2018 meldete das UN-Kinderhilfswerk Unicef, dass etwa 880 000 Kinder unter fünf Jahren in diesem Jahr in Indien starben. Die höchste Rate weltweit. Das lag vor allem an der Ernährung.

Während im Alltag vieler Menschen das Elend steigt, legen die Aktienkurse zu.

Mukesh Ambani ist Indiens reichster Mann, er ist der Besitzer von Reliance Industries, einem dieser gigantischen indischen Mischkonzerne. Reliance produziert Treibstoff, ist aber auch im Telekommunikations-, Verkaufs- und Versandgeschäft. Ambani ist also ein indischer Jeff Bezos, und als solcher konnte er seinen Reichtum zwischen März und Oktober 2020 mehr als verdoppeln, auf etwa 78 Milliarden Dollar. So berichten es die Vermögensschätzer des Wirtschaftsmagazins Forbes.

Ambani ist nicht der Einzige, dessen Vermögen zwischen März und Oktober rasant gestiegen ist. Die Finanzmärkte haben ein turbulentes Jahr erlebt, nach einem dramatischen Absturz im ersten Quartal folgte eine märchenhafte Erholung an den globalen Finanzmärkten. Der einflussreiche Aktienindex MSCI World legte 2020 um 14 Prozent zu. Nur profitieren von diesem Märchen lediglich die Besitzer von Aktien. Die Armen dagegen verloren oft ihre Existenzgrundlage.

Beispielsweise gingen in der indischen Software-Metropole Bangalore viele kleine Betriebe schnell pleite, als die Programmiererinnen und Programmierer ins Home-Office übersiedelten und nur noch bei Bringdiensten bestellten. So weit weg waren diese Heimarbeiter manchmal, wenn sie beispielsweise zu ihren Familien flüchteten, dass auch der Wohnungsmarkt einbrach.

Indiens Wirtschaft boomte über viele Jahre. Der Mittelstand wuchs und schien immer weiter wachsen zu können, solange man einerseits den gigantischen Binnenmarkt von 1,3 Milliarden Indern bedient und andererseits in exportfähige Produkte investiert. Zum Mittelstand zählen in Indien die vielen Millionen Kleinunternehmer, was von der Straßenküche über den Schuster bis zur Reinigung an der Ecke viele Menschen umfasst, denen durch den harten Lockdown im vergangenen Frühjahr die Existenzgrundlage entzogen wurde.

Sie stürzen oftmals unaufhaltsam, werden von keinem sozialen Netz aufgefangen, verlieren Kreditwürdigkeit. Die Nichtregierungsorganisation Oxfam berichtet von der Armutsfalle, wenn arme Kleinunternehmer ihr Vieh oder ihr Motorrad verkaufen müssen, um eine Miete zu zahlen, und im nächsten Monat endgültig pleite sind und nichts mehr haben, um gegenzusteuern. Laut Oxfam erholen sich wohlhabende Menschen daher viel leichter und schneller als Angehörige ärmerer Schichten. Diese verstärkte Ungerechtigkeit wird vor allem Frauen, Kinder, Jugendliche, indigene Bevölkerungsgruppen und Wanderarbeiter betreffen. Ohnehin sind in Indien Jobs, die vor allem Frauen ausüben, in der derzeitigen Krise 1,8 Mal häufiger gefährdet als Männerberufe. Die indische Wirtschaftsleistung ging im dritten Quartal 2020 um 23,9 Prozent zurück, im vierten Quartal noch mal um 7,5 Prozent.

Kinderarbeiter werden häufig hart bestraft, wenn sie ihr Soll nicht erfüllen

Neben Essen, das fehlt, und Bildung, die verpasst wird, steigt in vielen südostasiatischen Ländern der Kinderhandel an. Auch die Verheiratung von Minderjährigen nimmt wieder zu. Oxfam wie die UN befürchten etwa 13 Millionen neue Kinderehen weltweit bis zum Jahr 2030 durch die Pandemie. Auch hier ist Indien besonders betroffen.

Eltern geben ihre Kinder weg, verheiraten sie, verkaufen sie in Sklavenarbeit oder Prostitution, weil sie sie nicht selber ernähren, geschweige denn ausbilden können. Häufig werden die Kinder auch unter den Versprechungen eines kleinen Wohlstands weggelockt oder schlicht entführt. In Indien ist Arbeit von 14 Jahren an erlaubt, wenn die Jugendlichen in einem familiennahen Betrieb und nicht unter gefährlichen Bedingungen arbeiten. Das erschwert eine Überwachung.

Zwischen April und September vergangenen Jahres konnte die Organisation "Bachpan Bachao Andolan" (Rettet die Kinder) 1127 Kinder finden und an ihre Familien oder Kinderheime übergeben. 86 Menschenhändler wurden verhaftet. Aber die Dunkelziffer in diesem Bereich ist hoch, zumal in einem Land, in dem niemand genau überprüft, wie viele Kinder arme Familien auf dem Land haben. Und ob diese freiwillig in die Großstadt ziehen, um Jeans zu bleichen oder Lackarmbänder anzumalen. "Bachpan Bachao Andolan" hat während der Pandemie 245 Haushalte in fünf ländlicheren Provinzen Indiens befragt, ob sie bereit sind, Kinder unter 18 Jahren zur Arbeit in urbane Gegenden zu verschicken - aufgrund der Wirtschaftskrise. Rund ein Fünftel der antwortenden Haushalte bejahte das.

Viele dieser Kinder schicken von den paar Rupien, die sie verdienen, den Großteil nach Hause. Sie selber übernachten in Gemeinschaftskojen, häufig werden sie hart bestraft, wenn sie ihr Soll nicht erfüllen. Weglaufen geht nicht so einfach, alleine wegen der Distanzen. Kinder sind einem noch viel brutaleren Markt ausgesetzt als dem der globalisierten Lieferketten.

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