Ökonom Marcel Fratzscher:Ungleichheit schadet allen - auch den Reichen

Weihnachtsgeschäft in München, 2015

Ungleichheit macht nicht nur die Armen ärmer - auch den Reichen schadet sie.

(Foto: Natalie Neomi Isser)
  • Laut dem DIW-Chef Marcel Fratzscher sind die hohen Einkünfte der Reichen nicht die Ursache für die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft.
  • Ein größeres Problem sei die sinkende Kaufkraft der sozial Schwachen, da deren fehlender Konsum der Wirtschaft schade.

Von Franziska Augstein

Vor einigen Jahren hat der amerikanische Präsident Barack Obama einer Öffentlichkeit, die sich eher für Abmurksereien auf offener Straße oder Abtreibungen interessiert, in einer Rede dargelegt, die Einkommensungleichheit sei die "entscheidende Herausforderung unserer Zeit". Der deutsche Politiker Gregor Gysi war nie müde, erst bei der PDS, dann bei der Linkspartei, darauf zu verweisen, dass die Einkommen der deutschen Arbeitnehmer seit 1990 de facto stagnieren, dass das in der Bundesrepublik erwirtschaftete Geld vor allem in den Taschen derjenigen lande, die ohnehin schon genug haben.

In seinem neuen Buch gibt der Direktor des in Berlin ansässigen Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, dem US-Präsidenten und Gregor Gysi recht. Das DIW ist unabhängig, ebenso wie das Ifo-Institut in München. Beide beziehen Geld vom Staat, beide fertigen auf Anfrage und gegen Geld Analysen an. Der Unterschied ist, dass das Ifo-Institut eher im Sinn der Angebotsseite, also der Geld habenden, argumentiert, wohingegen das DIW sich vor allem für die Nachfrageseite, also die normalen Leute, interessiert.

Nirgendwo sonst ist Privatvermögen so ungleich verteilt

Fratzschers Resümee des deutschen Zustands sieht nicht gut aus: Die soziale Marktwirtschaft, wie weiland Ludwig Erhard sie sich vorstellte, sei weit davon entfernt, deutsche Wirklichkeit zu sein. Die zunehmende Ungleichheit schädige die gesamte deutsche Wirtschaft. Das belegt Fratzscher mit Zahlen und Tabellen so eindrücklich, dass den Lesern, wenn sie die Tabellen nicht flott überspringen, ganz schwummerig wird. "In keinem anderen Land Europas sind Privatvermögen (. . .) so ungleich verteilt wie in Deutschland." "Die Arbeitnehmerin mit geringem Einkommen hat seit 1990 deutliche Lohneinbußen hinnehmen müssen." Laut der OECD hätte Deutschlands Wirtschaftsleistung seit 1990 "um knapp ein Fünftel höher sein können, wäre die Einkommensungleichheit in Deutschland nicht gestiegen".

Fratzscher bekennt sich zum Kapitalismus. Er hält ihn für eine feine Einrichtung. Er vertraut aber Studien der Europäischen Union, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sowie des Weltwährungsfonds. Die alle belegen seine These: Zu viel Ungleichheit schadet der Wirtschaft.

So war die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen ein Auslöser der Finanz- und Bankenkrise: Wer nicht viel Geld hat, gibt sein Geld aus. Wer hingegen wohlhabend ist, der spart. So hatten weltweit die Sparer, dazu zählten die Deutschen, Anfang der 2000er-Jahre Unsummen angesammelt: Die wollten investiert werden. Wenn die Industrie zögerlich investiert, wird das Geld halt in Luftikus-"Produkten" des Finanzmarkts versenkt. Eines Tages platzt die Blase mit den bekannten Folgen. Es ist ein Mythos, dass die Deutschen mit ihrem Steuergeld Griechenland retten müssten. Sie mussten vielmehr die eigenen Banken retten. Die hatten sich verzockt: Ihre Verluste "waren die zweithöchsten Europas".

Das Problem ist die sinkende Kaufkraft der unteren zwanzig Prozent

Im Großen und Ganzen, sagt Fratzscher, seien nicht die hohen Einkünfte der Reichen das Problem, sondern die stetig sinkende Kaufkraft der unteren zwanzig Prozent. Was die nicht konsumieren können, fehle im wirtschaftlichen Getriebe.

Im Übrigen würden die Fähigkeiten der Leute aus niederen Einkommensklassen nicht gefördert: In kaum einem anderen EU-Land ist der soziale Aufstieg so schwierig wie in Deutschland: Wer als Kind armer Eltern geboren wird, bekommt keine gute Ausbildung und wird es nicht besser haben als die Eltern. Sehr oft sei das verschwendete Intelligenz, die der Wirtschaft verloren geht, meint Fratzscher und plädiert dafür, dass viel mehr junge Menschen einen Hochschulabschluss bräuchten.

Auch das Potenzial von Frauen und Flüchtlingen wird verschwendet

Das gleiche gilt für die Frauen: Auch durch die Hartz-IV-Reformen seien viele in Teilzeitarbeit gedrängelt worden. Einmal davon abgesehen, dass Frauen in der Bundesrepublik im Durchschnitt für die gleiche Arbeit 22 Prozent weniger Lohn bekommen als Männer (das wird in der EU nur von Estland und Österreich unterboten), haben sie es schwer auf dem Arbeitsmarkt. Schade für die deutsche Wirtschaft, sagt Fratzscher.

Und für die Flüchtlinge gilt das auch. Fratzscher macht die Rechnung auf: Ein Neuankömmling koste den Staat pro Jahr 12 000 Euro. Das mache für 800 000 Flüchtlinge etwa zehn Milliarden Euro, das sind 0,3 Prozent der jährlichen deutschen Wirtschaftsleistung. Ein Gipfel zwischen Politik und Wirtschaft sei nötig, um Ausbildungspläne aufzulegen. In den 2020er-Jahren werde man dankbar sein, dass die Leute kamen.

Fratzscher zeigt: Umverteilen bringt Deutschland nicht mehr viel

Eine Pointe von Fratzschers Buch liegt in einer These, die er leider nicht ordentlich belegt. Er schreibt, dass die deutschen Steuern und Abgaben hoch sind, weil so die kolossale Ungleichheit eingedämmt werde. In der Tat: Die Ungleichheit in Deutschland ist, so zeigen Fratzschers Statistiken, ungefähr so hoch wie die in den USA, sie ist höher als in anderen EU-Ländern. Im Gegensatz zu den USA hat die Bundesrepublik seit jeher über ihre Steuerpolitik Umverteilung betrieben. Diese bringt der Volkswirtschaft zunehmend weniger, wie Fratzscher zeigt.

Aber seine Behauptung, die Umverteilungspolitik sei ein Fehler, erklärt er nicht ordentlich. Sein einziges plausibles Beispiel ist das Betreuungsgeld. Erwiesenermaßen nehmen das gern Eltern in Anspruch, die vor allem ans Geld denken; besonders gern Eltern, in deren Haushalt nicht Deutsch gesprochen wird: Deren Kinder werden damit von Anbeginn ihrer Chancen beraubt.

Fratzscher meint zusammen mit dem Bundesverfassungsgericht: Die Erbschaftssteuer müsse in klugem Maße auch für Unternehmen gelten. Die Sozialabgaben der Arbeitgeber indes müssten gesenkt werden, weil sie Teil falsch verstandener Umverteilung seien. Im Münchner Ifo-Institut wird man ihm in diesem Punkt zustimmen. Was das allerdings bringen soll, macht Fratzscher nicht plausibel. Sein Buch ist anregend. Wer wissen will, wie Deutschland ökonomisch dasteht, ist damit gut bedient.

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