Ekelerregend, menschenverachtend, unglaublich - das sind drei Worte aus mehreren Tausend Kommentaren, die am Donnerstagmittag auf der Facebook-Seite der deutschen Niederlassung von Amazon zu finden waren. Eigentlich hatte der Onlinehändler dort zu einem Gewinnspiel geladen. Doch gaben die Kunden dort gleich Anweisungen, wie man sein Amazon-Konto löscht. Eine ARD-Dokumentation über Leiharbeiter hatte einen wahren Sturm der Entrüstung ausgelöst.
Die Langzeitreportage von Diana Löbl und Peter Onneken erhebt schwere Vorwürfe: Die Filmemacher werfen Amazon vor, Arbeiter zu beschäftigen, die mit falschen Versprechungen aus ganz Europa angelockt worden seien. Die Arbeiter hätten nicht, wie versprochen, Arbeitsverträge direkt bei Amazon erhalten, sondern seien bei Leiharbeitsfirmen beschäftigt worden. Zu einem Stundenlohn von 8,52 Euro brutto. Erfahren hätten sie davon erst zwei Tage vor Abfahrt aus ihrer Heimat. Zudem müssten Arbeiter bis zu 17 Kilometer am Tag in den Lagern laufen, 15 Tage ohne Ruhetag arbeiten und nach Ende ihrer Schicht in leerstehenden Ferienparks beengt zusammenleben. Dabei seien sie auf den Bustransfer von diesen Unterkünften in die Lager angewiesen, bekämen Wartezeiten aber nicht bezahlt, wenn sich die Busse verspäten. Kost und Logis würden vom Lohn abgerechnet.
In dunklen Bildern zeigt der Film eine Schattenwelt abseits des glitzernden Internetauftritts eines Unternehmens, das mittlerweile ein Viertel des deutschen Versandhandels beherrscht. Im vergangenen Jahr erwirtschaftete der Internetkonzern allein in Deutschland 6,8 Milliarden Euro Umsatz. Die Kunden können dort fast jedes Produkt günstig bestellen - von der Kaffeemaschine bis zum Klopapier. Geliefert wird oft über Nacht.
Per Telefon war Amazon für die Süddeutsche Zeitung nicht zu erreichen. Stellung bezog eine Sprecherin nur schriftlich: Die via Zeitarbeitsfirma beschäftigten Mitarbeiter würden bei einer "37,5 Stundenwoche 1400 Euro brutto im Monat verdienen, in der Nachtschicht bei 32,5 Wochenstunden 1500 Euro im Monat".
Der Gewerkschaft Verdi zufolge heuerte der Onlinehändler für das Weihnachtsgeschäft 5000 zusätzliche Hilfskräfte aus ganz Europa für die Arbeit in den deutschen Lagern an. Dabei wandte sich der Konzern zunächst an die Bundesagentur für Arbeit, die das Angebot dann international weitervermittelte. Allein im Lager in Koblenz sind Verdi-Angaben zufolge von 3300 Mitarbeitern nur 200 fest angestellt. Im hessischen Bad Hersfeld seien zwei Drittel aller Mitarbeiter befristet beschäftigt. Die Amazon-Sprecherin bestätigte, dass "in der Weihnachtssaison zusätzliche Amazon-Mitarbeiter saisonal befristet" eingestellt wurden und dass darüber hinaus Amazon "in absoluten Spitzenzeiten mit Zeitarbeitsfirmen zusammenarbeitet".
Die Dokumentarfilmer zeigen, wie sich um die Lager herum in heruntergekommenen Motels und Ferienanlagen eigene Wirtschaftszweige entwickelt haben. Deren einziger Zweck: die Versorgung der Leiharbeiter. Hoteliers, Reiseveranstalter, Catering-Unternehmen und Sicherheitsfirmen verdienten daher an der Not der Zeitarbeiter, lautet die Kritik der Filmemacher. "Amazon stiehlt sich aus der Verantwortung", sagt Mechthild Middeke, bei der Gewerkschaft Verdi für das Logistikzentrum Bad Hersfeld zuständig, zur SZ. "In dieser Dichte habe ich das noch nicht gewusst. Vergangenes Jahr hat das eine neue Dimension erreicht."
Die Gewerkschafterin fordert, dass die ausländischen Arbeiter "vernünftig in den Betriebsablauf integriert werden, Ansprechpartner haben, die sie über die ganz normalen Gepflogenheiten des deutschen Arbeitsrechts aufklären". Sie verlangt zudem, dass Amazon auch zu saisonalen Hochzeiten "normale befristete Verträge zu üblichen Konditionen" abschließt, anstatt massiv auf Leiharbeiter zu setzen. "Amazon muss als Arbeitgeber Verantwortung tragen."
Auf diese Forderungen geht Amazon in seiner Stellungnahme nicht ein - und verweist stattdessen auf "zufriedene Mitarbeiter". Doch diese, so sagte Filmemacherin Löbl zur SZ, würden 24 Stunden am Tag überwacht: "Zunächst während der Acht-Stunden-Schichten in den Warenlagern. Danach in ihren Unterkünften von einem dubiosen Sicherheitsunternehmen, das von Rechtsextremen durchsetzt ist." Auch die Filmemacher bekamen das Misstrauen zu spüren: Mehrfach seien ihre Dreharbeiten vom Sicherheitsdienst gestört worden, klagt Filmemacher Onneken.
In dem Film ist eine Szene zu sehen, in der die Journalisten vom Sicherheitsdienst körperlich bedrängt werden. Später müssen sie unter Polizeischutz eine Ferienanlage verlassen. "Wir fühlten uns bedroht", sagt Löbl. Die Sicherheitsmänner hätten Thor-Steinar-Klamotten an, die Marke ist vor allem unter Neonazis beliebt. "Wir wurden eine knappe Stunde in unserem Zimmer festgesetzt, bis wir es unter Polizeischutz verlassen konnten", berichtet Löbl. Diesen Vorwurf weist der Online-Händler zurück. Man dulde "keinerlei Diskriminierung oder Einschüchterung", betonte eine Sprecherin. Auch wenn das Sicherheitsunternehmen nicht von Amazon beauftragt worden sei, prüfe man nun das Verhalten des Sicherheitspersonals. Sollten sich die Vorwürfe bestätigten, werde Amazon umgehend geeignete Maßnahmen einleiten.