Süddeutsche Zeitung

Architektur:Digitale Rettung

Vor einem Jahr ging Notre-Dame in Flammen auf. Seitdem ist das Start-up Iconem dabei, die Pariser Kathedrale in jedem Detail nachzubauen - erst als Kopie am Computer, und dann in der Wirklichkeit.

Von Leo Klimm, Paris

Als das Feuer ausbricht, ist Yves Ubelmann zufällig ganz in der Nähe. Er ist am Place Saint-Michel, am Seine-Ufer gegenüber von Notre-Dame. Wie gelähmt starrt er auf die brennende Kathedrale. Den ganzen Abend, die ganze Nacht. Mit Tausenden anderen sieht Ubelmann dabei zu, wie der Vierungsturm auf dem Mittelschiff zusammenstürzt, wie sich die Flammen durch das Dach fressen, und der Qualm den Himmel über Paris schwarz färbt. Asche weht ihm ins Gesicht. "Es war fürchterlich", sagt er, "ein Gefühl vollkommener Ohnmacht."

Bis zu diesem Moment hatte Ubelmann gedacht, er sei abgeklärt im Umgang mit zerstörten Kulturschätzen. Er hatte schon oft vom Krieg verwüstete Antikenstätten fotografiert, zum Beispiel in Palmyra in Syrien oder in Mossul im Irak. Das ist sein Job. "Aber wenn man die Zerstörung live erlebt, bricht auch in einem drin etwas zusammen", sagt er. "Es ist ein Schock."

Mit Hilfe vieler Fotos entstehen hochpräzise 3D-Repliken

Ubelmann ist zäh, die Schockstarre hält ihn nicht lange gefangen. Schon am frühen Morgen des 16. April 2019, als er nach Hause geht, und die Kathedrale immer noch brennt, beschließt er, sich und sein Unternehmen, das Tech-Start-up Iconem, in den Dienst des Wiederaufbaus zu stellen. Sonst hilft Ubelmann im Nahen und Mittleren Osten, Denkmäler zu retten. Jetzt will er seiner Heimatstadt Paris helfen, die Wunde in ihrer Mitte zu heilen.

Yves Ubelmann ist ein digitaler Kopist des Weltkulturerbes: Ausgehend von unzähligen Fotos, die er und seine Mitarbeiter von Denkmälern machen und sammeln, erstellt Iconem hochpräzise 3-D-Repliken. "Wir erhalten von Zerstörung bedrohtes Kulturerbe - na ja, wenigstens ein Abbild davon", sagt Ubelmann. Der Firmenchef, gelernter Architekt, sieht darin eine "humanistische Mission mit Hightech-Mitteln". Geld verdient er, wenn Iconem Ausstellungen der 3-D-Animationen, Fotos und Videos an Museen verkauft, etwa an das Grand Palais in Paris oder an die Bundeskunsthalle Bonn. Zwei Schauen in Brüssel und Washington können wegen der Corona-Krise gerade nicht gezeigt werden.

"Mich interessiert, was Digitaltechnik gegen die Katastrophe ausrichten kann", sagt Ubelmann. Er meint nicht das Virus, er meint die fortschreitende Zerstörung antiker Schätze besonders im arabischen Raum. Bei Notre-Dame nun geht es ihm darum, den Restauratoren eine von außen wie innen millimetergenaue 3-D-Kopie des Originals an die Hand zu geben. Erst soll das gotische Gotteshaus in seinem Vor-Katastrophen-Zustand in jedem Detail digital nachgebaut werden - dann in echt.

Und Millionen könnten daran mitwirken. Denn um möglichst viele Fotos einzusammeln, die in die digitale Kopie einfließen, hat Iconem die Seite opennotredame.org eingerichtet. Dort kann jeder, der einmal als Tourist die berühmte Kirche fotografiert hat, seine Bilder abgeben. Immerhin gehört die Kathedrale zu den am meisten fotografierten Gebäuden der Welt. Der Fundus ist enorm; auch aus dem 19. Jahrhundert gibt es viele Aufnahmen. Etwa 20 000 Fotos haben Nutzer über die Plattform schon eingestellt.

Ein Laserscanner hat Milliarden Datenpunkte an der Fassade erfasst

Das ist allerdings nur ein Bruchteil der Bilder, die Iconem schon hat. Der Starfotograf Yann Arthus-Bertrand hat Notre-Dame aus der Luft festgehalten und stellt diese Aufnahmen zur Verfügung. Das erweist sich besonders für eine getreue Replik des Vierungsturms als wertvoll. Auch der Videospielehersteller Ubisoft überlässt Iconem viele Bilder. Der Konzern hatte Notre-Dame millionenfach abgelichtet, um eine virtuelle Kulisse für das Spiel "Assassin's Creed" zu bauen. Als wahrer Schatz erweisen sich außerdem Pläne, die der US-Forscher Andrew Tallon in den Nullerjahren erstellt hat: Tallon hat mit Laserscannern Milliarden Datenpunkte an der Fassade und im Innenraum der Kathedrale erfasst, die jetzt in die 3-D-Modelle eingespeist werden. Sogar mittelalterliche Gravuren und alte Aquarelle nutzt Iconem. "Das Ziel ist, nicht nur vom Zustand der Kathedrale kurz vor dem Brand Nachbildungen zu erhalten", sagt Ubelmann. "Ich will auch die Veränderung des Gebäudes im Lauf der Jahrhunderte zeigen."

In Anlehnung an die hergebrachte Technik der Fotogrammetrie legt der Iconem-Algorithmus dann sämtliche eingegebene Daten aus unterschiedlichsten Quellen übereinander - und verwandelt sie in präzise 3-D-Kopien. Gespeichert werden sie auf leistungsstarken Großrechnern, mit denen Microsoft das Projekt unterstützt.

Die digitale Puzzlearbeit geschieht in einer Atelierwohnung im einstigen Pariser Künstlerviertel Montparnasse. Hier sitzen in normalen Zeiten - wenn das Coronavirus nicht ins Heimbüro zwingt - Ubelmanns 15 Mitarbeiter. IT-Entwickler, Archäologen, Ausstellungsdesigner, Betriebswirte, alles ist dabei. In den Gängen der Wohnung stapeln sich Spezialkoffer, in denen Drohnen und Kameras lagern. Sie kommen bei den Iconem-Expeditionen zum Einsatz.

Ubelmann schaltet einen Bildschirm an. Er will ein paar der Modelle zeigen: Mossul im Irak, Pompeji in Italien, die Römerstadt Leptis Magna in Libyen. Die antiken Wunderwerke lassen sich am Bildschirm virtuell begehen, Details an Säulen oder Skulpturen lassen sich beliebig heranzoomen.

Dann kommt Notre-Dame. Ubelmann klickt sich wild durch die Kathedrale. Vom Hauptportal im Flug hinüber ins Querschiff. Vom Altar steil hinauf ins Deckengewölbe - und dort hinaus, über das Dach. "Hier liegt unser größtes Problem", sagt Ubelmann kleinlaut. "Hier haben wir einige tote Winkel." Ausgerechnet von der Dachpartie, die am stärksten vom Brand beschädigt wurde, hat Iconem bisher nicht genug Bilder und Daten: In den Modellen klafft dort ein Loch, genau wie bei der echten Kathedrale. "Das Problem müssen wir lösen", sagt Ubelmann. Immer, wenn es auf seiner digitalen Baustelle länger nicht vorangeht, denkt er an seinen Großvater Yves-Marie Froidevaux. Der war in der Nachkriegszeit als Chefarchitekt für Frankreichs Denkmäler verantwortlich und ließ bombardierte Kirchen wiederaufbauen. "Ich empfinde das als Fingerzeig", sagt Ubelmann. Notre-Dame nicht wiederherstellen? Undenkbar.

Ubelmann, 39, stammt aus einer Künstlerfamilie. "Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Start-upper werde", sagt er. Aber irgendwann war der Algorithmus, den er mit einem IT-Professor zur Verarbeitung seines Forschungsmaterials entwickelt hatte, so ausgereift, dass sich 2013 eine Firmengründung anbot.

Es werden weitere Investoren gesucht

Heute mag Iconem auf seinem Gebiet ein Pionier der künstlichen Intelligenz sein - sehr rentabel ist die Firma nicht. Ubelmann zufolge verliert sie zumindest kein Geld. Er sucht gerade neue Investoren, vielleicht müsste man sagen: Mäzene. Nachdem der Drohnenhersteller Parrot 2015 mit 1,5 Millionen Euro eingestiegen war, möchte Ubelmann jetzt vier Millionen Euro einwerben. Er will im Geschäft mit Ausstellungen expandieren. "Damit lässt sich am ehesten etwas verdienen", sagt er. "Die Leute sind fasziniert, wenn sich Trümmerfelder wieder zu einem Ganzen zusammenfügen."

Trümmerfelder hat er einige gesehen. Etwa in Palmyra. 2016 war er dort, wenige Tage nach der Vertreibung des sogenannten Islamischen Staats aus der alten Oasenstadt, die die Terrormiliz verwüstet hatte. Ubelmann hat in 35 000 Aufnahmen alles dokumentiert, was kaputtgegangen war und was noch stand. In Frankreich wurde ihm deshalb vorgeworfen, er kollaboriere mit dem syrischen Regime. Ihn ficht das nicht an. Er arbeite nie mit dem Militär zusammen, beteuert er. "Aber durchaus mit syrischen Antikenforschern, denen ich auch die Bilder überlasse." Die Vorwürfe findet er scheinheilig: "Es geht darum, Menschheitsgeschichte zu erhalten", sagt er. "Wer da nichts tut, versündigt sich." Das Kulturerbe gehe rasant verloren - durch Krieg, Verstädterung, Plünderungen, Klimawandel. "Wir machen etwas dagegen."

Und der Anblick der brennenden Kathedrale Notre-Dame hat ihn vor einem Jahr noch etwas gelehrt: Die Gefahr ist überall. Nicht nur in armen Ländern. Selbst in Frankreich, das in Frieden lebt und seine Denkmäler aufwendig pflegt, sind erstrangige Kulturschätze bedroht. Sie können in Flammen aufgehen, einfach so.

"Wir werden Notre-Dame wieder aufbauen", sagt Ubelmann trotzig. "Es ist unser Auftrag." Möglichst noch 2020 will er den Restauratoren, die am realen Gebäude arbeiten, die ersten 3-D-Repliken vorlegen können - ohne den Dachschaden. Die Arbeiten zur Rekonstruktion am realen Gebäude haben dann wohl noch gar nicht begonnen. Läuft alles, wie der Iconem-Chef es sich wünscht, kann er die Modelle zum Jahresende auch in einer großen Ausstellung zeigen. "Das soll die Leute animieren, uns noch mehr Fotos von Notre-Dame zu schicken", sagt Ubelmann. Denn: Je mehr Bilder einfließen, desto besser die Modelle. Die digitale Kopie ist nie fertig, immer in Veränderung. Genau wie das Original.

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Quelle:
SZ vom 14.04.2020
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