Süddeutsche Zeitung

Arbeitszeiterfassung :Notfalls auf Papier

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Auch die Gutachter von Wirtschaftsminister Altmaier sagen: Arbeitszeit muss erfasst werden - und Deutschland sein Recht anpassen.

Von Henrike Roßbach, Berlin

Als der Europäische Gerichtshof im Mai 2019 verkündete, in der EU müsse künftig die Arbeitszeit aller Beschäftigten erfasst werden, ahnte Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) wohl schon, wie wenig das der deutschen Wirtschaft gefallen würde. Insofern war es nicht verwunderlich, dass er zunächst, ganz im Sinne der alarmierten Unternehmen, vor der Rückkehr zur Stechuhr warnte und ein Gutachten in Auftrag gab, ob Deutschland denn wirklich etwas unternehmen müsse.

Danach aber wurde es in dieser Sache still um Altmaier. Während das Gutachten, das Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) in Auftrag gegeben hatte, im Dezember publik wurde (und dem deutschen Recht deutlichen Änderungsbedarf attestierte), hielt Altmaier seines unter Verschluss. Nun ist klar, warum: Auch seine Gutachter gehen davon aus, dass die Arbeitszeiterfassung in Deutschland geändert werden muss.

Erstellt haben das Gutachten der Rechtsprofessor Volker Rieble von der Ludwig-Maximilians-Universität München und Stephan Vielmeier, Fachanwalt für Arbeitsrecht - und zwar schon im Sommer, wie das Datum 22. Juli 2019 zeigt. Ihr Urteil ist eindeutig: Das deutsche Arbeitszeitrecht entspreche den Vorgaben des EuGH nur teilweise, heißt es in dem Gutachten, das der SZ vorliegt und über das zuerst das Handelsblatt berichtet hatte. "Das nationale Recht muss angepasst werden."

Prompte Kritik kam am Dienstag vom CDU-Wirtschaftsrat. "Ob die Arbeitszeiterfassung in Deutschland reformiert werden muss, ist höchst unsicher", teilte dessen Generalsekretär Wolfgang Steiger mit, zahlreiche "renommierte Rechtswissenschaftler" sähen das anders. Der Gesetzgeber solle sich zurückhalten; Handlungsbedarf gebe es vielmehr bei der Flexibilisierung der Arbeitszeiten. Altmaiers Gutachter sehen das anders, betonen aber, das Gericht habe keine "bestimmte Erfassungstechnik" vorgeschrieben. Zudem stehe einer "Delegation der Aufzeichnungspflicht an den Arbeitnehmer" nichts entgegen, sprich: Aus Sicht der Juristen könnten Unternehmen auch ihre Beschäftigten mit der Aufzeichnung ihrer Arbeitszeit beauftragen.

"Der Gesetzgeber sollte unbedingt Mitwirkungspflichten des Arbeitnehmers regeln", heißt es in dem Gutachten. So könne sichergestellt werden, dass Arbeitgeber nicht zu einer Zeiterfassung verpflichtet werden, die sie gar nicht leisten könnten, etwa bei "mobilen Arbeitnehmern oder Arbeitnehmern im Homeoffice". In kleinen Unternehmen könne auch der "Papieraufschrieb" akzeptiert werden. Alles in allem solle der Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum nutzen, "auch um die berechtigten Interessen der Arbeitgeber zu wahren".

"Arbeitszeit ist Lebenszeit und jede Stunde ist aufzuzeichnen und zu bezahlen", sagte die Linken-Fraktionsvize Susanne Ferschl am Dienstag. Nach neuen Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung kamen 2019 in Deutschland gut 957 Millionen unbezahlte Überstunden zusammen, 23,3 je Arbeitnehmer - etwas weniger als ein Jahr zuvor. Hinzu kamen 969 Millionen bezahlte Überstunden. "Ich fordere die Bundesregierung auf, endlich zu handeln", sagte Ferschl. Beginn und Ende der Arbeitszeit und Pausen müssten aufgezeichnet und die wöchentliche Höchstarbeitszeit auf 40 Stunden begrenzt werden.

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SZ vom 04.03.2020
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