Süddeutsche Zeitung

Arbeitszeit im Osten:Die Metaller streiten weiter

IG Metall und Arbeitgeber hatten sich vor Wochen auf einen Abschluss der Tarifrunde geeinigt. Doch der Osten will nicht mitmachen - weil die Metaller dort drei Stunden länger arbeiten müssen.

Von Benedikt Peters

Wenn man so will, dann fehlen Frank Kasischke nur ein paar Meter. Der 49-Jährige arbeitet bei Siemens Mobility, er entwickelt dort Programme für die Sicherheit von Zügen: Welchen Weg sie einschlagen, wo sie bremsen müssen, solche Dinge. Von seinem Arbeitsplatz an der Heidelberger Straße in Berlin-Treptow kann Kasischke auf den ehemaligen Grenzstreifen zwischen DDR und Bundesrepublik schauen, und er sagt: "Ich arbeite auf der falschen Seite." Hinter dem Grenzstreifen beginnt zwar längst nicht mehr ein neues Land. Er markiert aber, tarifpolitisch gesehen, noch immer den Übergang zwischen zwei Welten.

Im Westen haben sich die Metaller schon vor mehr als einem Vierteljahrhundert die 35-Stunden-Woche erkämpft. Im Osten sind sie daran gescheitert, dort wird 38 Stunden gearbeitet. In Frank Kasischkes Betrieb führt das dazu, dass die Leute das gleiche Geld bekommen, aber unterschiedlich lange arbeiten: Die etwa 1000 Siemens-Mobility-Mitarbeiter in Treptow (Osten) müssen drei Stunden pro Woche länger bleiben als die 300 Beschäftigten am Standort Siemensstadt im Berliner Westen. Kasischke ist nicht nur Entwickler, er ist auch Betriebsrat, und er hat das mal ausgerechnet: "Im Jahr arbeiten unsere Leute im Osten einen Monat länger. Die sind schon sauer."

Nicht nur die Belegschaft bei Siemens zürnt, sondern auch die IG Metall. Im Bezirk Berlin-Brandenburg-Sachsen stehen die Gewerkschafter tief im Konflikt mit den Arbeitgebern - und das, obwohl die Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie eigentlich schon seit Wochen vorbei ist. Am 30. März einigten sich die Tarifparteien in Düsseldorf, nachdem sie zuvor mehr als drei Monate lang gefeilscht hatten. Sie vereinbarten eine Corona-Prämie und eine neue, jährliche Sonderzahlung, die die knapp vier Millionen Beschäftigten von 2022 an bekommen sollen.

Den Pilotabschluss aus Nordrhein-Westfalen wollen die anderen Regionen übernehmen. Ende gut, alles gut - wäre da nicht der Osten. Der dortige IG-Metall-Bezirk Berlin-Brandenburg-Sachsen erinnert in diesen Tagen ein wenig an ein gallisches Dorf: Mit seinen vergleichsweise wenigen 290 000 Beschäftigten stemmt er sich weiter gegen die Arbeitgeber und will - mit dem Segen des IG-Metall-Vorstands in Frankfurt - dem Abschluss nicht zustimmen, solange er nicht einen finanziellen Ausgleich für die Mehrarbeit durchgesetzt bekommt. Allerdings ist die Frage, ob die Gallier aus dem Osten auch über genügend Zaubertrank verfügen - also über genügend Kraft, um diesen Kampf zu gewinnen.

Gewerkschaft und Arbeitgeber standen schon mal kurz vor der Einigung

Die IG Metall streitet schon lange für eine Angleichung der Arbeitszeit. Im Osten ist sie aber deutlich schlechter organisiert als im Westen. Das macht es schwer, Betriebe lahmzulegen und die Angleichung zu erzwingen. Entsprechend wenig bewegt sich bisher in den aktuellen Verhandlungen - doch die Metaller wollen weiter kämpfen.

In Frank Kasischkes Betrieb haben sie vergangenen Mittwoch einen Warnstreik gemacht, drei Stunden, eben so lange, wie sie wöchentlich weniger arbeiten wollen. Es lief gut, sagt Kasischke, viele Kollegen waren da, mit Abstand natürlich, und Gregor Gysi. Der habe "sehr schöne Statements zum Besten gegeben", sagt Kasischke, unter anderem habe der Linken-Politiker damit gedroht, so lange im Bundestag zu bleiben, bis die Ost-West-Angleichung vollzogen sei. Anderswo streikten die Metaller sogar 24 Stunden am Stück, bei BMW in Leipzig zum Beispiel, bei Volkswagen in Zwickau oder beim Zulieferer ZF in Brandenburg.

Vor zweieinhalb Jahren standen Gewerkschaften und Berliner Arbeitgeber schon einmal kurz vor einer Einigung, bis 2030 sollte die Arbeitszeit angeglichen werden. Doch dann intervenierte der Arbeitgeber-Dachverband Gesamtmetall - dem Vernehmen nach weil im Süden das Verständnis fehlte. Dort sitzen zahlreiche Automobilkonzerne, die im Osten günstigere Standorte haben.

Nun ist die Lage für die Gewerkschaft noch schwieriger: Wegen der Umwälzungen in der Automobilindustrie - weg vom Verbrenner, hin zu umweltfreundlicheren Antrieben - und der Corona-Pandemie stecken vor allem die Zulieferer und einige Mittelständler in der Krise. Für das Angleichungsgeld, das einer Gehaltserhöhung von 8,5 Prozent entsprechen würde, seien einfach keine Mittel da, signalisieren die Arbeitgeber, auch nicht für einzelne Schritte in die Richtung. Der sächsische Arbeitgeberverband versuchte kürzlich sogar, Warnstreiks gerichtlich verbieten zu lassen, scheiterte jedoch. Das habe die Fronten zusätzlich verhärtet, sagt die IG-Metall-Bezirksleiterin Birgit Dietze, sie spricht von "großer Empörung".

Die 48-jährige Verhandlungsführerin ist in keiner leichten Situation. Trotz der widrigen Bedingungen kann sie jetzt kaum einen Rückzieher machen: Mit den vielen Warnstreiks in den vergangenen Tagen hat sie bei den Beschäftigten wie Frank Kasischke hohe Erwartungen geweckt. Für diesen Montag hat die IG Metall noch mal zu einem großen Protesttag aufgerufen, am Dienstag will sie ein letztes Mal mit den Arbeitgebern verhandeln - bevor Ende der Woche der IG-Metall-Vorstand entscheiden will, wie es weitergeht. Frank Kasischke wäre bereit, weiter zu streiken, sagt er. "Wir wollen nicht klein beigeben."

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