Gesellschaft:Der urbane Wohlstandsbürger hat leicht reden

DEUTSCHLAND, NIEDERSACHSEN, LANGENHAGEN, 21.03.2021 - Erster Flug nach Mallorca - Flughafen Hannover-Langenhagen - Reis

Einmal im Jahr in den Urlaub fliegen: Viele Menschen arbeiten hart darauf hin.

(Foto: imago images/Michael Matthey)

Millionen Menschen arbeiten, ohne wirklich davon leben zu können. Sie sind unverzichtbar für den Wirtschaftsstandort. Doch in der gesellschaftlichen Debatte gehen ihre Belange verloren, zum Beispiel beim Klimaschutz.

Kommentar von Uwe Ritzer

Es gibt ihn, den Maschinenraum dieses Landes, auch wenn viele ihn nicht mehr sehen wollen. Und demzufolge gibt es auch die Menschen, die darin arbeiten. Sie tun das, wie das in Maschinenräumen eben ist, zuverlässig und unauffällig. Bus- und Lkw-Fahrer zum Beispiel, Monteure und Fabrikarbeiter, Kassiererinnen in Supermärkten und Handwerksgesellen, oder Angestellte in Büros. Ihre Zahl geht weit in die Millionen und sie halten, lapidar formuliert, den Laden am Laufen. Sie sind unverzichtbar für den Wirtschaftsstandort und Garanten der Wohlstandsgesellschaft. Früher nannte man sie im allgemeinen Sprachgebrauch despektierlich "die kleinen Leute".

In Deutschland allerdings geht es bezogen auf diese Menschen tatsächlich zu wie auf einem Kreuzfahrtschiff. Diejenigen, die in luxuriösen Kabinen und eleganten Bordrestaurants ihren Wohlstand genießen oder auf der sauber polierten Kommandobrücke stehen, vergessen jene, die dafür sorgen, dass die Schiffsturbinen überhaupt laufen. Diese verengte Wahrnehmung ist ein wachsendes Problem. Vor lauter Debatten über Klimaschutz und Gendersprache, Corona und Diversität verlieren Politik und Teile der Gesellschaft so Millionen Menschen aus den Augen.

Dabei werden diese von wachsenden existenziellen Problemen geplagt. Zum Beispiel dem Umstand, dass sie trotz ihrer Vollzeitjobs von ihren Löhnen und Gehältern kaum noch leben können. Weil Mieten in Ballungszentren exorbitant und schneller steigen als die Einkommen. Weil Immobilienpreise und Energiekosten explodieren. Weil Autofahrten, aber auch der ÖPNV immer teurer werden, während gleichzeitig die Realeinkommen sinken. 2084 Euro netto betrug der monatliche Durchschnittslohn hierzulande im vergangenen Jahr. In den zehn größten Städten kostete zugleich eine Wohnung mit 100 Quadratmetern, geeignet für eine vierköpfige Familie, im Schnitt 1240 Euro Miete. Kalt, ohne Nebenkosten. Da bleibt kein Spielraum mehr.

Die Betroffenen sind darüber zunehmend frustriert und fühlen sich von Politik und Gesellschaft vernachlässigt. Zu Recht. Die alles überlagernde Klimaschutzdebatte offenbart dieses Dilemma ganz besonders. Unstrittig ist es klimagerechter, sich fleischlos(er) und am besten auch noch bio zu ernähren. Heizöl, Benzin und Flugtickets zu verteuern und damit unattraktiver zu machen, ist ein probates Mittel gegen Erderwärmung. Aber was macht es mit den Familien, wenn Eltern in den Maschinenräumen hart darauf hinarbeiten, sich wenigstens einmal im Jahr zwei Wochen Urlaub mit den Kindern im All-inclusive-Drei-Sterne-Hotel auf Mallorca leisten zu können? Was bedeutet es für sie - und vor allem: Wie kommt es bei ihnen an - wenn Politiker und, ja, auch Journalisten, sie pausenlos belehren, dass ein Flugticket auf die Balearen 100 Euro mehr kosten muss, und es noch besser wäre, gar nicht mehr in Urlaub zu fliegen?

Für Gutsituierte ist es kein Problem, wenn das Flugticket teurer wird

Zumal die Belehrer nicht selten urbane Wohlstandsbürger sind, die aus wohlsituierten Akademiker-Vierteln heraus argumentieren. Was auch erklärt, weshalb die schon lange zur Schickeria-Partei mutierten Grünen dort überproportionalen Zuspruch erfahren. Nur: Wer selbst sehr gut verdient oder geerbt hat, kann aus seiner Komfortzone heraus leicht verlangen, im Biomarkt anstatt beim Discounter einzukaufen. Für Gutsituierte ist es auch kein Problem, wenn das Flugticket teurer wird, oder der Liter Sprit plötzlich 16 Cent mehr kostet. Wohl aber für jene, die die Fabrik mit 1500 Euro netto im Monat verlassen, oder als Friseurinnen und Paketboten knapp über Mindestlohn verdienen. Von Rentnerinnen und Rentnern gar nicht erst zu reden.

Doch über die Köpfe dieser Menschen gehen Politiker und Leitartikler inzwischen mit lässiger Großzügigkeit hinweg. In den Wahlprogrammen der Parteien finden sich dazu simple Parolen und Allgemeinplätze, kaum aber konkrete Ansätze, um das Dilemma anzugehen. Auch die bloße Umverteilung von oben nach unten ist keine Lösung. Es braucht einen Perspektivwechsel. Schon viel zu lange verengen sich sozialpolitische Debatten auf das Thema Hartz-IV. Die Menschen in den Maschinenräumen brauchen breite politische und gesellschaftliche Unterstützung. Ansonsten wenden sie sich frustriert ab - und schlimmstenfalls politischen Rattenfängern zu.

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