Die Reaktion auf die Personalie Andrea Nahles war leider erwartbar. Ihre wahrscheinliche Berufung an die Spitze der Bundesagentur für Arbeit (BA) ist für viele Nutzer der sogenannten sozialen Medien ein klarer Fall: Als Politikerin gescheitert, werde die frühere SPD-Chefin mit einem gut bezahlten Posten versorgt, obwohl sie völlig ungeeignet sei. Die Arbeitslose Nahles nun Chefin der Arbeitslosen, haha - als ob die 51-Jährige nicht seit 2020 der Bundesanstalt für Post und Telekommunikation vorstehen würde.
Diese Reaktion passt zu einer verbreiteten Anti-Stimmung in Deutschland gegen Politiker. Sie sind angeblich überbezahlt, obwohl jeder mittelmäßige Dax-Manager über Abgeordnetendiäten und Ministergehälter lacht. Sie sind angeblich tiefkorrupt, obwohl außer den anrüchigen Maskendeals von Unionspolitikern in der Pandemie in den vergangenen Jahren wenig vorfiel. Diese Anti-Stimmung steht im Kontrast dazu, dass Deutschland im Großen und Ganzen seit Dekaden passabel regiert wird - besser als die meisten Länder der Welt jedenfalls.
Trotzdem zeigt sich die Anti-Stimmung immer, sobald ein Politiker einen Posten außerhalb der Politik übernimmt. Klar, es gibt mal einen Versorgungsfall. Doch die Personalie Nahles ist kein solcher. Die frühere Arbeitsministerin kann Deutschlands Arbeitsagenturen sehr gut leiten.
Es ist richtig, dass dieser Chefposten nicht an irgendwen gehen sollte. Auf die Behörde warten Riesenaufgaben. Der klimagerechte Umbau der Wirtschaft und die Digitalisierung entwerten die Kenntnisse von Millionen Arbeitnehmern. Sie weiterzubilden und teils für neue Berufe umzuqualifizieren, um Massenarbeitslosigkeit zu vermeiden, ist für das Schicksal des Landes zentral. Genau diesen Prozess müssen die Jobagenturen steuern.
Auch sollten sie Rezepte gegen Fachkräftemangel entwickeln. Damit Mütter und Ältere leichter in den Beruf zurückfinden, bevor Deutschlands Büros und Fabriken verwaisen. Zudem muss die neue BA-Chefin auf Corona-Folgen wie mehr Langzeitarbeitslose reagieren, bevor die Menschen dem Berufsleben entgleiten.
Warum sollte Andrea Nahles das alles nicht können? Sie war nicht nur von 2013 bis 2017 Arbeitsministerin. Sie agierte dabei sachbetont und unideologisch. Dafür zollten ihr damals sogar die Arbeitgeber Lob, von denen sie jetzt mancher verhindern wollte.
Für die Gesellschaft ist die Berufung ein Fortschritt
Nahles qualifiziert noch etwas, das womöglich nicht jedem Arbeitgeberfunktionär wichtig ist: Mitgefühl mit Menschen, die ihre Arbeit verloren haben oder finanziell kaum über die Runden kommen. Sie war es, die gegen große Widerstände 2015 den Mindestlohn durchsetzte, den es in anderen Industriestaaten seit Jahrzehnten gibt. Und sie stieß das neue Sozialstaatskonzept der SPD an, das Härten von Hartz IV beseitigen soll. Deshalb erscheint sie als die Richtige, den Hartz-Nachfolger Bürgergeld umzusetzen.
Es spricht nicht gegen Nahles, dass sie Politikerin war. Fast alle bisherigen Chefs der Jobagentur kamen aus der Politik. In dem Amt helfen Kontakte in Berlin und intime Kenntnis dortiger Abläufe. Gerade jetzt, da die Corona-Krise die Kassen der Agentur geleert hat. Der bisherige BA-Chef Detlef Scheele, zuvor SPD-Sozialsenator in Hamburg, bügelte geschickt den Widerstand gegen langes Kurzarbeitergeld ab - und half so, in der Corona-Rezession die Arbeitslosigkeit von Millionen zu verhindern. Und er brachte seine Sachkenntnis an, sodass Sanktionen bei Hartz IV/Bürgergeld nicht komplett wegfallen - unpopulär, aber für eine Minderheit Arbeitsloser nötig.
Nahles' Wahl hat einen Vorzug, der womöglich ebenfalls nicht jedem Arbeitgeberfunktionär wichtig ist. Für die Gesellschaft dagegen ist es ein Fortschritt, dass nach all den Heinrichs, Bernhards und Frank-Jürgens erstmals nach 70 Jahren eine Andrea an die Spitze der Behörde tritt. Nun sollte Nahles zeigen, dass sie als starke Persönlichkeit für alle Arbeitnehmer und Jobsuchenden kämpft. Und nicht im mächtigen Verwaltungsrat mit Gewerkschaften und Arbeitgebern kuschelt, die auch mal ihr eigenes Süppchen kochen.