TTIP-Papiere:Europäer und Amerikaner trennt bei TTIP mehr, als sie zugeben

Jobless Claims In U.S. Hold Below 300,000 For Sixth Week

Arbeitslose auf einer Job-Messe im texanischen San Antonio: Die große Unzufriedenheit in weiten Teilen der Mittelschicht hat in den USA zu einem allgemeinen Vertrauensverlust in die Politik geführt

(Foto: Bloomberg)
  • Die Verhandlungspositionen von EU und USA bei TTIP sind teils weit voneinander entfernt. Grund ist oft auch ein kultureller Dissens.
  • Zugleich zeigt sich, dass die Zahl der amerikanischen TTIP-Unterstützer schwindet.

Von Claus Hulverscheidt und Kathrin Werner, New York

Ein einziger. Ein einziger einsamer Demonstrant harrt vor dem Hotel Hilton in Manhattan aus, ein junger Mann mit wallendem Haar. "Globalisierung tötet", ruft er und versucht, den vorbei eilenden Menschen ein Flugblatt in die Hand zu drücken. An seinem Hals baumelt ein Plakat. "Die totalitäre Machtübernahme hat begonnen", steht darauf. Die Passanten achten nicht auf ihn, in New York protestiert ja immer irgendwer gegen irgendwas.

Drinnen, im Hotel, sitzen die Mächtigen aus Europa und den USA zusammen und feilschen um das Freihandelsabkommen TTIP, zum 13. Mal in knapp drei Jahren. Dan Mullaney, der Chefunterhändler der Amerikaner, hat sich eine Anstecknadel mit US- und EU-Fahne ans Revers geheftet, um für gute Stimmung zu sorgen. "Wir hatten eine sehr produktive Runde in dieser Woche, obwohl wir noch viel Arbeit vor uns haben", sagt er, als die Gespräche am Freitag einmal mehr vertagt werden.

Tatsächlich hakt es immer noch an vielen Ecken, an der Frage europäischer Autoexporte ebenso wie am Wunsch amerikanischer Großbauern, mehr Waren in die EU zu verkaufen. Kern des Problems ist dabei oft weniger eine konkrete Zahl oder Quote als vielmehr ein fundamentaler kultureller Dissens, der vor allem die Gespräche über Agrar- und Chemieprodukte belastet. Vereinfacht gesagt, gilt in Europa der Leitsatz, dass alles, was gesundheitsgefährdend sein könnte, verboten ist. In den USA ist es genau umkehrt: Alles, was nicht nachweisbar schadet, ist erlaubt.

Nur einer von sieben Amerikanern spricht sich für das Abkommen aus

Die größere Risikobereitschaft gehört zur DNA der USA wie die Vorsicht zu Europa. In der Praxis jedoch herrscht auf beiden Seiten des Verhandlungstisches oft Unverständnis. "Wir verlangen doch gar keine geringeren Standards in der Lebensmittelsicherheit", sagt Floyd Gaibler vom US-Getreiderat, dem es vor allem um den Verkauf genveränderter Sojabohnen nach Europa geht. "Aber wir brauchen einen transparenten Genehmigungsprozess, der auf Wissenschaft basiert." Der Kollege vom Fleischinstitut sieht das ganz genauso.

Immerhin: Die Öffentlichkeit durfte mitreden bei den Verhandlungen, von denen es ja so gerne heißt, sie fänden ausschließlich im Geheimen statt - wobei "Öffentlichkeit" in New York vor allem bedeutete: Industrielobbyisten. 43 Verbände trugen ihre Interessen vor, fast alle von ihnen sind - wie die Regierung Obama - klar pro TTIP.

Viele Amerikaner sind gegen TTIP - aber aus ganz anderen Gründen

Der einheitliche Auftritt täuscht jedoch darüber hinweg, dass auch in den USA die Vertragsbefürworter längst in der Minderheit sind. Nur einer von sieben Amerikanern spricht sich in Umfragen klar für das Abkommen aus. Allerdings sind die Motive der Gegner anders gelagert als in Europa, denn auch wenn manche Amerikaner französischen Rohmilchkäse für ebenso gefährlich halten wie viele EU-Bürger genveränderte Lebensmittel aus den USA: Im Mittelpunkt steht weniger die Angst vor sinkenden Verbraucherschutzstandards als vielmehr die Sorge um Arbeitsplätze.

Die Furcht erscheint nachvollziehbar, denn tatsächlich sind im Zuge der Globalisierung allein zwischen 1989 und 2009 fast sechs Millionen Industrie-Jobs in den USA verloren gegangen, viele nach Südostasien. Mit dem Abschluss des nordamerikanischen Freihandelsabkommens Nafta verstärkte sich der Trend noch, denn in der Folge lagerten US-Konzerne Teile der Produktion nach Mexiko aus. Das Ergebnis war nicht nur eine steigende Arbeitslosigkeit unter Industriebeschäftigten, sondern auch anhaltender Druck auf die Löhne derer, die noch Arbeit hatten. Zwar lässt sich seit einiger Zeit eine gewisse Trendwende beobachten, denn immer mehr Firmen haben genug von minderer Qualität und langen Lieferzeiten und verlagern Arbeitsplätze in die USA zurück. Die Jobs sind jedoch oft schlechter bezahlt als früher oder aber so anspruchsvoll, dass einfache Arbeiter sie nicht mehr bewältigen können.

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(Foto: SZ-Grafik; Quelle: USDA)

Das Ergebnis ist eine große Unzufriedenheit in weiten Teilen der vor allem weißen Mittelschicht, die zu einem allgemeinen Vertrauensverlust in die Politik geführt hat. "Freihandelsabkommen sind Projekte von Eliten, für die Bevölkerung sind dagegen handfeste Vorteile nicht direkt erkennbar", sagt Gabriel Felbermayr, Handelsexperte am Münchner Ifo-Institut. "Was viele Leuten sorgt, ist die Unsicherheit."

Genau diese machen sich die radikaleren unter den US-Präsidentschaftsbewerbern zunutze, indem sie lautstark gegen TTIP sowie das schon fertig verhandelte amerikanisch-asiatische Pendant TPP agitieren. So wettert Donald Trump, der führende republikanische Kandidat, die USA ließen sich im Welthandel stets "von China über den Tisch ziehen". Als Präsident werde er "Jobs nach Hause holen" und chinesische Waren mit hohen Zöllen belegen. Der linke Demokrat Sanders hingegen behauptet, Handelsverträge gingen stets zu Lasten der Arbeitnehmer, weil US-Betriebe Jobs im Inland strichen und die heimischen Kräfte durch billige ausländische "Arbeitssklaven" ersetzten. Beide Kandidaten haben mit ihrer Kritik zwar mehr TPP als TTIP im Auge, in der Debatte aber wird kaum noch zwischen den einzelnen Verträgen unterschieden.

Der Widerstand gegen die Abkommen ist mittlerweile so groß, dass selbst Befürworter wie die führende demokratische Bewerberin Hillary Clinton von ihnen abrücken. Noch dramatischer ist der Schwenk in der Republikanischen Partei, für die das Bekenntnis zum Freihandel stets zum Markenkern zählte. Experten allerdings warnen, dass die Versprechen der Kandidaten die nächste Enttäuschung der Bürger bereits in sich bergen. Selbst wenn der nächste US-Präsident die Verträge tatsächlich kippen sollte, werde er die Globalisierung damit nicht zurückdrehen können, so Joseph LaVorgna, USA-Chefvolkswirt der Deutschen Bank in New York. "Das Amerika der 1950er Jahre wird es nie wieder geben."

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