Süddeutsche Zeitung

Arbeitsmarkt:Warum es in Deutschland mehr Jobs gibt - trotz des Kriegs in der Ukraine

Obwohl der russische Überfall viel wirtschaftliche Unsicherheit schafft, ist der deutsche Arbeitsmarkt erstaunlich stabil. Viele Firmen bieten sogar höhere Gehälter. Aber kann das so bleiben?

Von Alexander Hagelüken

Ob Inflation, Stopp von russischem Gas oder Lockdowns in China, ständig gibt es neue Gefahren für die Arbeitsplätze in Deutschland. Doch zwei Monate nach dem Überfall auf die Ukraine ist etwas Erstaunliches zu beobachten: Die Arbeitslosigkeit schrumpfte im April sogar - wie schon im März. Viele Unternehmen stellen ein, vielen Bewerbern winken sogar höhere Gehälter. Und das trotz aller Risiken.

In Deutschland gibt es aktuell 45,2 Millionen Arbeitnehmer und Selbständige - erstmals wieder mehr als vor Ausbruch der Corona-Pandemie 2020. Im April suchten nur noch 2,3 Millionen Bürger einen Job, 50 000 weniger als im Monat zuvor. "Mit der Frühjahrsbelebung und den Lockerungen der Corona-Maßnahmen setzt sich die Erholung am Arbeitsmarkt fort", sagt Detlef Scheele, Chef der Bundesagentur für Arbeit. Mancher wird sich angesichts all der Gefahren fragen: Wie kann das sein?

"Am Arbeitsmarkt dominiert derzeit, dass sich die Unternehmen von der Pandemie erholen", analysiert Dominik Groll vom Institut für Weltwirtschaft (IfW). Restaurants, Kosmetikerinnen, Kinos, Cafés, Bars, Hotels oder Fitness-Studios: Alle Dienstleister mit vielen Kontakten zu Menschen traf Corona besonders hart. Jetzt kommen ihre Kunden zurück. Und deshalb stellen sie wieder ein. In den schlimmsten Zeiten der Pandemie hatten eine Million Bundesbürger weniger eine Arbeit als vorher. Ja, da gibt es viele Stellen wiederzubesetzen.

"Der Krieg in der Ukraine verlangsamt die Zunahme der Beschäftigung, aber er stoppt sie nicht", sagt Dominik Groll vom Kieler IfW-Institut. Natürlich hat der russische Überfall Konsequenzen. Die neuen Unsicherheiten des ersten Flächenkriegs in Europa seit Jahrzehnten lassen Firmen zögern zu investieren. Was die Industrie angeht, sank das Beschäftigungsbarometer des Münchner Ifo-Instituts im März und April. Mit Einstellungen halten sich besonders Branchen wie die Chemie zurück, die viel Energie verbrauchen. Ihnen machen die hohen Preise genauso zu schaffen wie die Gefahr, dass das russische Gas ganz ausbleibt.

Kurzarbeit könnte Geschäftseinbrüche durch Chinas Corona-Politik auffangen

Das Gesamtbild aber ist positiver. "Die hohe Unsicherheit in der Wirtschaft durch den Angriff auf die Ukraine scheint die Personalplanungen nicht nachhaltig zu beeinflussen", berichtet Klaus Wohlrabe vom Ifo-Institut. Das Ifo-Stellenbarometer für die ganze Wirtschaft ging im April wieder in die Höhe. Gerade Dienstleister wollen einstellen. Und die sind für dreimal so viele Arbeitsplätze verantwortlich wie die Industrie. "Die Beschäftigung in Deutschland wird weiter steigen", erwartet Wohlrabe.

Und die strikte Null-Covid-Politik der chinesischen Regierung, die die Lieferprobleme der Bundesrepublik zu vervielfachen droht? Sie könnte die Konjunktur dämpfen und Firmen veranlassen, ihre Lieferketten umzubauen. Aber Personal entlassen dürften die Unternehmen deshalb nicht, sondern etwaige Geschäftseinbrüche durch Kurzarbeit auffangen.

Denn es gibt neben der Corona-Erholung einen zweiten mächtigen Trend, der sich positiv auf die Arbeitnehmer auswirkt: Deutschland altert und schrumpft - und deshalb sind die Arbeitnehmer begehrter denn je. Die Zahl der Arbeitskräfte nimmt in den nächsten Jahren ab. Das bleibt nur aus, wenn jährlich 400 000 Migranten mehr ins Land kommen als wieder gehen. Doch ein solcher Zuzug ist unwahrscheinlich.

Der Schwund an Fachkräften hat die deutsche Wirtschaft schon längst erfasst. Als die Unternehmen kürzlich in einer EU-Studie mal wieder gefragt wurden, was ihre Tätigkeit behindert, gab jedes dritte an: Personalmangel. Egal, ob Dienstleister, Bau oder Industrie. Das ist ein historischer Höchstwert.

Noch sitzen die Deutschen auf zusätzlichen Ersparnissen von 200 Milliarden Euro

Manche Firmen suchen fast schon verzweifelt. Und nicht nur nach IT-Leuten. Im April waren bei der Bundesagentur für Arbeit 850 000 offene Stellen gemeldet, gut 200 000 mehr als vor einem Jahr. Auf der Jobplattform Stepstone werden 70 bis 80 Prozent mehr Stellen für Handwerkerinnen, Pfleger und Logistiker ausgeschrieben als ein Jahr zuvor. Und da war die Nachfrage schon stark. Eine Analyse für den Personaldienstleister Hays zeigt: Wegen der Inflation suchen die Firmen aktuell mehr Controller und Buchhalter, um die Kosten im Griff zu behalten. Und sie suchen mit aller Kraft nach Leuten für ihre Personalabteilungen. Also Personaler, um Antworten zu finden - auf die Personalnot.

Die Nachfrage wirkt sich auf die Gehälter aus. Nach einer Umfrage wollen 40 Prozent der Firmen ihre Mitarbeiterzahl erhöhen. Um geeignete Leute zu finden, zahlen sie dafür auch mehr. Die meisten Unternehmen erwarten, dass die Gehälter dieses Jahr im Schnitt um knapp fünf Prozent steigen. Allerdings stammt die Umfrage von ifo und dem Personalvermittler Randstad von vor dem Ukraine-Krieg. Hat sich seitdem nicht viel geändert?

Ja, zum Beispiel ist die Inflation hartnäckiger als erhofft. "Hohe Preise dämpfen die Kaufkraft der Verbraucher", sagt der Arbeitsmarktökonom Dominik Groll. Mancher muss sich beim Einkauf zurückhalten. Der Handel stellt aktuell eher kein Personal ein. Groll verweist aber darauf, dass die gut verdienenden Deutschen viel zusätzliches Geld angespart haben, als während der Corona-Krise Restaurants und Geschäfte geschlossen waren. Sie könnten einen Teil der zusätzlichen Ersparnisse von 200 Milliarden Euro ausgeben.

Ein Embargo oder Lieferstopp von russischem Gas könnte die Energiepreise lange hochhalten

Als größte Gefahr für den Arbeitsmarkt erscheint daher momentan, dass der russische Angriffskrieg in der Ukraine auf eine bisher nicht vorhergesehene Weise eskaliert, die doch viele Jobs in Deutschland kostet. Oder dass kein russisches Gas mehr fließt - durch ein westliches Embargo oder einen Lieferstopp von Präsident Wladimir Putin. Zwar ist die Heizperiode so gut wie vorbei, und die Gasspeicher sind wieder voller. "Aber nächsten Winter kommt es dann wahrscheinlich zu Engpässen".

Manche Industriefirmen müssen wohl erst mal ihre Produktion einstellen. Bleibt das vorübergehend so, entlassen die Firmen vielleicht nicht, sondern greifen zu Kurzarbeit. Am meisten Sorgen macht Groll, dass so ein Gasausfall die Energiepreise lange hochhalten kann. Dass die Deutschen deshalb ihre sonstigen Ausgaben einschränken und die Unternehmen weniger Personal nachfragen.

Das könnte auch Branchen treffen, an die man nicht gleich denkt. Etwa die Baubranche. In der Pandemie, als vieles andere nicht ging, verschönerten viele Deutsche ihre Immobilie oder bauten eine. "Bei drastisch hohen Preisen würden viele Bürger wahrscheinlich gerade in Bereichen wie Bau und Handwerk sparen, wo sie in der Pandemie schon Geld ausgegeben haben".

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5577193
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/Jmfb
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.