Trotz der Krise behalten die Menschen in Deutschland ihre Jobs, doch die Folgen des russischen Krieges gegen die Ukraine machen sich nun auch am Arbeitsmarkt bemerkbar. Dies ist die Hauptbotschaft, die sich aus den Arbeitsmarktzahlen herauslesen lässt, die Andrea Nahles am Mittwoch in Nürnberg vorstellte. Insgesamt sei der Arbeitsmarkt "weiter robust", in diesem Oktober aber falle die saisonübliche Erholung am Arbeitsmarkt "gedämpft aus", sagte die Chefin der Bundesagentur für Arbeit (BA). 2,44 Millionen Arbeitslose zählte die Agentur im Oktober, das waren 43 000 weniger als noch im September, um saisonale Effekte bereinigt stieg die Zahl der Arbeitslosen jedoch leicht um 8000 auf insgesamt 5,3 Prozent.
"Diesmal liegt das nicht an der Erfassung der Ukrainerinnen und Ukrainer, sondern an den Folgen der wirtschaftlichen Entwicklung", sagte Nahles. Wie lässt sich die anhaltende Stabilität auf dem Arbeitsmarkt erklären - und wo bahnen sich Risiken an?
Was den Arbeitsmarkt (noch) stützt
Die Energiekrise macht zwar Betrieben und Verbrauchern zu schaffen, doch noch sei den Leuten die Kauflaune nicht vergangen, sagt Oliver Holtemöller, Arbeitsmarktexperte und Vizepräsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). "Die Menschen haben seit den Lockerungen der Corona-Auflagen Nachholbedarf, es gibt Ersparnisse, die nun ausgegeben werden." Dies mache sich insbesondere dort bemerkbar, wo es in den Hochzeiten der Pandemie am meisten Einschränkungen gab, in der Gastronomie, im Einzelhandel.
Diese Branchen haben laut Holtemöller viele Menschen eingestellt. Die Lust, sich wieder etwas zu gönnen, erleichtert es den Unternehmen zudem, höhere Preise zu verlangen und damit ihre gestiegenen Kosten, zum Beispiel durch höhere Gasrechnungen, weiterzugeben. Hinzu kommt: Die Unternehmen sind vorsichtiger geworden mit Entlassungen. Denn wenn Fachkräfte erst mal weg sind, wird es oft äußert schwierig, neue anzuwerben. Der allgemeine Fachkräftemangel wirkt sich aus wie eine Art Beschäftigungssicherung.
Wann es ernst wird
Das heißt nicht, dass es nun immer so weitergehen kann auf dem Arbeitsmarkt. "Es gäbe deutliche Auswirkungen auf die Beschäftigung, wenn es zu einer Gasmangellage kommt", sagt Holtemöller. Wenn also das Gas in Deutschland rationiert werden müsste, weil zu wenig da ist, um sowohl Privathaushalte, Einrichtungen wie Schulen als auch Industriebetriebe zu versorgen. Hier gilt laut Gesetz grundsätzlich: Wohnungen und kritische Infrastruktur wie Kliniken haben Vorrang, als Erstes müssten Unternehmen verzichten. Sie müssten die Produktion herunterfahren und womöglich Leute entlassen. Es sei denn, Entlassungen werden wie in der Corona-Pandemie weitgehend durch Kurzarbeit aufgefangen. Russlands Staatskonzern Gazprom hat Ende August seine Gaslieferungen nach Deutschland eingestellt. Die deutschen Gasspeicher konnten zwar dennoch gefüllt werden, ob dies für den ganzen Winter reicht, ist allerdings unsicher. "Das hängt nun vom Wetter ab", sagt Holtemöller.
Es gibt schon Warnzeichen
Dass es ungemütlich werden könnte, das ist auch den Unternehmen nicht entgangen. Wenn man die Lage in einen Wetterbericht übersetzen müsste, könnte man sagen: Noch scheint die Sonne und es ist warm, aber man spürt erste Windböen, und am Horizont türmen sich Gewitterwolken auf. Laut Bundesagentur für Arbeit suchen die Unternehmen zwar nach wie vor recht eifrig nach neuen Mitarbeitern. Aber: "Sie reduzieren ihre Nachfrage nach neuem Personal", sagte die BA-Chefin. Die Suche nach neuen Leuten habe im Oktober "spürbar nachgelassen". Die Unternehmen sind vorsichtiger geworden. Zudem bereiteten sich mehr Betriebe auf Kurzarbeit vor, sagte Nahles. Die Anmeldungen für Kurzarbeit haben bereits deutlich zugenommen.
Da passt es ins Bild, dass etwa die Hälfte der Unternehmen in den kommenden zwölf Monaten offenbar mit einem Wirtschaftseinbruch rechnet. Dies ergab eine Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), die ebenfalls am Mittwoch vorgestellt wurde. "Die Unternehmen befürchten, dass das Schlimmste noch kommt", sagte DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben. Demnach gehen mehr als die Hälfte der Unternehmen (52 Prozent) davon aus, dass sich ihre eigenen Geschäfte verschlechtern werden. Nur noch acht Prozent rechneten mit einer Besserung. "Das ist der schlechteste Wert, den wir jemals seit Beginn der Erhebung im Jahr 1985 gemessen haben", sagte Wansleben.
"Es ist jetzt der Beginn der wirtschaftlichen Schwächephase, die wir für den Winter erwartet haben", sagt Oliver Holtemöller. Wenn man weniger produziere, dann brauche man eben weniger Beschäftigte.
Warum die Inflation hilft
In der Inflation können die Betriebe nicht nur höhere Preise verlangen und damit ihre höheren Rechnungen ausgleichen. Die Preissteigerung führt auch dazu, dass die Reallöhne sinken, dass Arbeit für die Unternehmen also billiger wird - zumindest so lange, wie höhere Tarifabschlüsse oder anderweitige Lohnsteigerungen dies nicht ausgleichen. "Die Reallohneinbußen helfen, das stützt im Moment die Beschäftigung", sagt IWH-Vizepräsident Holtemöller. Er verweist auf den Tarifabschluss in der Chemieindustrie, der "moderat ausgefallen" sei. Gewerkschaft und Arbeitgeber hatten sich Mitte Oktober darauf geeinigt, dass die Beschäftigten Sonderzahlungen von insgesamt 3000 Euro erhalten. Zudem greifen zum Januar 2023 und 2024 Entgelterhöhungen von je 3,25 Prozent. Diese dauerhaften Erhöhungen liegen deutlich unter der aktuellen Preissteigerung von 10,4 Prozent.
Der Osten fiele weicher als der Westen
In Ostdeutschland sind die Proteste gegen die Folgen der Energiekrise besonders gut besucht, Extremisten versuchen sie für sich zu vereinnahmen. Doch Ostdeutschland, sagt Holtemöller, leidet durch die Energiekrise wirtschaftlich nicht stärker als der Westen, im Gegenteil. "Westdeutschland würde durch eine Verschärfung der Energiekrise sogar noch stärker getroffen." In Ostdeutschland arbeiten anteilig mehr Menschen im öffentlichen Dienst, also krisensicher, und weniger Menschen im verarbeitenden Gewerbe - das die steigenden Energiepreise besonders hart zu spüren bekommt. "Ostdeutsche Unternehmen exportieren zudem nicht mehr nach Russland als westdeutsche", sagt Holtemöller. Damit wären Arbeitsplätze eher im Westen gefährdet als in Ostdeutschland.
Für Auszubildende sieht es noch gut aus
Bei der Suche nach einer Ausbildungsstelle machen sich die trüberen Aussichten noch nicht bemerkbar. Hier haben Auszubildende oft noch eine gute Auswahl, laut BA kamen bundesweit auf 100 gemeldete betriebliche Ausbildungsstellen rechnerisch 80 gemeldete Bewerberinnen und Bewerber. "Noch nie seit der Wiedervereinigung waren die Chancen auf eine Ausbildungsstelle so gut", sagte Nahles. Das hat natürlich eine Kehrseite: Viele Unternehmen können ihre Azubi-Stellen nicht besetzen, weil sich kaum jemand bewirbt.