Süddeutsche Zeitung

Arbeitsmarkt:Deutschland braucht eine Agenda 2020

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Trotz der positiven Arbeitsmarkt-Zahlen verfestigt sich die Zweiklassengesellschaft. Deshalb müssen dringend neue Reformen her.

Thomas Öchsner

Es ist wirklich ein kleines Wunder, was sich gerade am Arbeitsmarkt abspielt. Wie in den Monaten zuvor sind auch im März die Erwerbslosenzahlen überraschend gut ausgefallen. Deutschland hat die schlimmste Wirtschaftskrise seit acht Jahrzehnten besser verkraftet als andere Industrienationen, obwohl der Rückgang der Wirtschaftsleistung hierzulande besonders stark war. Man könnte es sich nun leicht machen, da und dort ein bisschen korrigieren und sonst nach der Devise verfahren: "Weiter so!" Damit wäre der Arbeitsmarkt für die Zukunft jedoch schlecht gerüstet.

Zunächst ist nicht zu verkennen, dass die März-Statistik besser aussieht als sie ist. Knapp 3,6 Millionen Erwerbslose zählen als arbeitslos. Nicht berücksichtigt sind dabei die 160.000 Arbeitslosen, die im Vergleich zum Vorjahr wegen neuer Rechenmethoden in dieser Statistik nicht mehr auftauchen. Hinzu kommt, dass die Zahl der Menschen, die tatsächlich eine Stelle brauchen, viel höher ist: Sie ist innerhalb der vergangenen zwölf Monate auf gut 4,7 Millionen gestiegen.

Auch dürften die Arbeitslosenzahlen nach dem Mini-Aufschwung im Frühjahr wieder wachsen, weil die Einbußen bei den Exporten und der schwache Konsum auf den Arbeitsmarkt noch stärker durchschlagen werden. Der befürchtete Kahlschlag wird aber ausbleiben. Das liegt vor allem daran, dass sich die Kurzarbeit bewährt hat. In den Unternehmen, die sie nutzten und jetzt wegen neuer Aufträge nicht mehr darauf angewiesen sind, können die Beschäftigten wieder voll arbeiten.

Dennoch benötigt der im Ausland so bewunderte deutsche Arbeitsmarkt dringend Reformen. Es ist gut, dass die Jobcenter erhalten bleiben, in denen Arbeitsagenturen und Kommunen Langzeitarbeitslose gemeinsam betreuen. Nach wie vor gibt es allerdings eine Zweiklassengesellschaft: auf der einen Seite die Empfänger von Arbeitslosengeld I, denen die Arbeitsagenturen bevorzugt helfen; auf der anderen Seite die Millionen Hilfsbedürftigen, die Arbeitslosengeld II beziehen und es nur schwer schaffen, aus dem Hartz-IV-System wieder aufzusteigen. Dies kann sich Deutschland auf Dauer nicht leisten.

Schon im Jahr 2015 droht ein Mangel an Arbeitskräften in noch nie gekannter Form. Knapp drei Millionen Bewerber könnten dann fehlen - Ingenieure, Techniker, Naturwissenschaftler genauso wie Erzieher, Lehrer oder Pflegekräfte. Die Betreuung von Langzeitarbeitslosen muss deshalb effektiver werden. Dass dies geht, zeigen die Niederlande mit ihren erstaunlich guten Vermittlungserfolgen.

Die Koalition muss möglichst schnell ein neues Anreizsystem schaffen, um für Hartz-IV-Empfänger die Annahme eines Vollzeitjobs attraktiver zu machen. Nötig ist außerdem ein flächendeckendes System von Ganztagsschulen und ein gigantisches Umschulungs- und Weiterbildungsprogramm. Nach Schröders Agenda 2010 braucht Deutschland eine Agenda 2020 für den Arbeitsmarkt.

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Quelle:
SZ vom 01.04.2010
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