Süddeutsche Zeitung

Arbeitslosigkeit:Deutschlands Agenda 2020

Wenger als drei Millionen Arbeitslose, das heißt auch: Ja, Vollbeschäftigung ist möglich. Allerdings wird sie für viele Menschen vorerst ein schöner Traum bleiben - weil der Regierung ein Konzept, eine Agenda 2020 fehlt.

Thomas Öchsner

Die Menschen hatten sich schon daran gewöhnt. 40 Jahre lang ist die Anzahl der Jobsuchenden in Deutschland eher gestiegen als gesunken. Die Massenarbeitslosigkeit, diese Geißel des Kapitalismus, schien unbesiegbar zu sein. Nun aber ist die Anzahl der Arbeitslosen unter die Marke von drei Millionen gefallen, auf den niedrigsten Stand seit dem Einheitsboom und in einem Tempo, das vor einem Jahr nur Phantasten für möglich gehalten hätten. Und das soll nicht einmal alles gewesen sein. Im Herbst 2012 könnte es sein, dass weniger als zwei Millionen Menschen ohne Stelle sind, sagen Forscher voraus. Wirtschaftsminister Rainer Brüderle spricht von der "Schnellstraße zur Vollbeschäftigung". Bis dahin ist es allerdings ein schwieriger Weg.

In einer sozialen Marktwirtschaft wird es immer Arbeitslose geben: weil Betriebe pleitegehen können oder Mitarbeiter auf die Straße setzen müssen, wenn die Aufträge fehlen. Vollbeschäftigung bedeutet nicht, dass jeder einen Job hat, sondern dass die Arbeitslosenquote möglichst niedrig ist. Ökonomen definieren Vollbeschäftigung als eine Quote zwischen zwei und vier Prozent. Davon ist Deutschland mit einem Wert von sieben Prozent noch weit entfernt.

Gewiss, das Unterschreiten der Drei-Millionen-Marke ist ein großer Fortschritt. Die unpopulären Arbeitsmarktreformen der früheren rot-grünen Regierung wirken. Die verstärkte Förderung der Kurzarbeit, die später der sozialdemokratische Arbeitsminister Olaf Scholz eingeführt und die CDU-Politikerin Ursula von der Leyen fortgesetzt hat, haben das Land vor Massenentlassungen bewahrt. Gewerkschaften und Arbeitgeber haben mit moderaten Lohnabschlüssen die Unternehmen international wettbewerbsfähiger gemacht. Das Management der großen Koalition während der Wirtschaftskrise hat sich im Nachhinein als klug herausgestellt. Und die Regierung von Angela Merkel kann jetzt vor allem die Erfolge ernten. Doch die Zwei vor dem Komma bei den Arbeitslosenzahlen täuscht über zwei bittere Wahrheiten hinweg: Es gibt viel mehr Menschen ohne Job, als die Statistik ausweist. Und für viele von ihnen sind die Chancen, jemals eine geregelte Arbeit zu bekommen, äußerst dürftig.

Nach wie vor ist die verdeckte Arbeitslosigkeit hoch. Gut eine Million Menschen werden von der Bundesagentur für Arbeit registriert, aber offiziell nicht mitgezählt, weil Agenturen und Jobcenter sie in irgendwelchen Maßnahmen geparkt haben. Auch rechnerische Tricks verschönern die Bilanz: Würden zum Beispiel diejenigen ohne Job in der Statistik auftauchen, die sich bei der Stellensuche von privaten Vermittlern helfen lassen, wäre die Drei-Millionen-Marke gar nicht geknackt worden. Von der Leyen hätte auf einen schönen Auftritt vor der Berliner Presse verzichten müssen.

Natürlich ist es ein Riesenerfolg, dass sich die Zahl der Langzeitarbeitslosen halbiert hat. Die Zahl der Erwerbstätigen, der Menschen also, die eine Arbeit haben, nimmt zu, wenn auch darunter viele Leiharbeiter, Minijobber und Arbeitnehmer mit befristeten Verträgen sind. Aber mehr als zwei Millionen der knapp drei Millionen Arbeitslosen sind erwerbsfähige Hartz-IV-Empfänger, deren Zukunft oft düster aussieht: Selbst wenn sich das deutsche Wachstumswunder fortsetzen würde, profitieren davon nur wenige. Vollbeschäftigung findet, wenn überhaupt, ohne sie statt.

Der Bundesregierung fehlt ein Konzept

Nach wie vor gehört zu diesem Land eben ein Heer von Langzeitarbeitslosen: Alleinerziehende, Ältere über 55 und Jugendliche, darunter überproportional vielen mit ausländischen Wurzeln, die kaum Perspektiven haben. Ihnen fehlt entweder eine ausreichende Kinderbetreuung oder die Qualifikation, Deutschkenntnisse oder die Motivation oder alles zusammen. Nötig wären deshalb eine Bildungsoffensive, mehr Ganztagsschulen, eine Kindergartenpflicht, mehr Deutschunterricht, Anreize, die einfache Jobs attraktiver als den Bezug von HartzIV machen - und mehr Arbeitsvermittler in den Jobcentern, die wirklich Zeit für individuelle Betreuung haben. Doch der Bundesregierung fehlt ein Konzept, eine Agenda 2020, wie sie diesen Menschen helfen und dem drohenden Fachkräftemangel trotzen will.

Solange sich dies nicht ändert, wird es Vollbeschäftigung nur in den prosperierenden Regionen des Landes geben - und Hartz IV eine Chiffre für die Falle in die Armut bleiben: Diejenigen, die noch in der Mitte der Gesellschaft sind, haben Angst hineinzufallen. Und diejenigen, die schon in der Falle stecken, geben irgendwann die Hoffnung auf, dauerhaft herauszukommen.

Schon jetzt durchziehen zwei tiefe Gräben den Arbeitsmarkt. Es gibt ein Süd- Nord- und ein West-Ost-Gefälle. In Bayern herrscht zum Teil längst ein akuter Arbeitskräftemangel, in Bremerhaven ist jeder Sechste arbeitslos. In den alten Bundesländern liegt die Arbeitslosenquote in der Regel unter zehn Prozent, in den neuen ist sie häufig noch zweistellig. Derzeit gibt es keine Anzeichen dafür, dass sich dies schnell ändert. Brüderles "Schnellstraße zur Vollbeschäftigung" hat zu viele Schlaglöcher und zu wenige Abzweigungen. Vollbeschäftigung ist möglich, doch für viele Menschen wird sie vorerst ein schöner Traum bleiben.

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Quelle:
SZ vom 29.10.2010/mel
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