Süddeutsche Zeitung

Agenda 2010:Für seine Ideen braucht Martin Schulz Rot-Rot-Grün

  • Martin Schulz will, dass das Arbeitslosengeld I länger ausgezahlt wird und dass befristete Arbeitsverträge nur noch bei wichtigen Gründen möglich sind.
  • Damit will er umstrittene Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 korrigieren, die die Regierung Schröder umgesetzt hatte.
  • Doch Experten kritisieren seine Vorschläge als Symbolpolitik, und bei CDU/CSU und FDP dürften sie ebenfalls auf wenig Gegenliebe stoßen.

Von Thomas Öchsner

Als die frühere rot-grüne Bundesregierung nach der Jahrtausendwende die Reformen am Arbeitsmarkt durchsetzte, fand der damalige Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement große Worte: "Das Ziel unserer Agenda 2010 heißt Arbeit für alle, und das ist erreichbar."

Tatsächlich haben die sogenannten Hartz-Reformen viel bewegt: Deutschland, das vor 15 Jahren noch als "kranker Mann Europas" galt, hat heute in der EU einen der flexibelsten Arbeitsmärkte. Es gibt zwei Millionen Erwerbslose weniger als vor der Reform. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist um gut 40 Prozent auf knapp unter eine Million gefallen; jedoch nicht nur wegen der Agenda 2010. "Die gute Konjunktur und moderate Lohnabschlüsse haben die Reformwirkung unterstützt", stellt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) fest.

Die Erfolgsstory hat allerdings auch Schattenseiten. Die Zahl der Geringverdiener, Minijobber und Leiharbeiter ist gestiegen. Das IAB, die Denkfabrik der Bundesagentur für Arbeit, spricht von einem "Auseinanderdriften der Gesellschaft", weil sich zwischen der Arbeitslosigkeit auf der einen und dem traditionellen unbefristeten Vollzeitjob auf der anderen Seite "ein breites Feld an atypischer, mitunter prekärer Beschäftigung" etabliert habe.

Schon Sigmar Gabriel hat deshalb 2009 als damals neuer SPD-Chef ein Kernstück der Reformen infrage gestellt. Gabriel sagte, die Politik habe was falsch gemacht, wenn jemand nach 20 Jahren Arbeit unverschuldet arbeitslos werde und weitere zwölf Monate später nur so viel Geld bekomme, wie einer, der nie gearbeitet habe. Der designierte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz schlug nun in der Bild-Zeitung in die gleiche Kerbe: Wenn jemand im Alter von 50 Jahren nach 15 Monaten Arbeitslosengeld I Hartz IV erhalte, dann gehe das an die Existenz. Das dürfe so nicht sein. Zugleich fügte er hinzu: "Wenn Fehler erkannt werden, müssen sie korrigiert werden." Schulz will also das Arbeitslosengeld I verlängern, auch wenn er das in seiner Bielefelder Rede nicht noch einmal ausdrücklich gefordert hat.

Das Arbeitslosengeld I war unter dem SPD-Kanzler Gerhard Schröder durchgesetzt worden und galt seit Anfang 2006. Das Geld gibt es für Erwerbslose, die innerhalb der vergangenen zwei Jahre vor Verlust ihres Arbeitsplatzes mindestens ein Jahr in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben. Das Arbeitslosengeld I wird allerdings in der Regel nur zwölf Monate ausgezahlt. Länger gibt es die Unterstützung nur für Ältere. Versicherte im Alter von 50 bis 54 können das Geld 15 Monate beziehen, sofern sie mindestens 30 Monate versichert waren. Für 55- bis 57-Jährige beläuft sich die Bezugszeit auf 18 Monate, bei einer Versicherungszeit von mindestens 36 Monaten. Für mindestens 58-Jährige liegt die Höchstzahldauer bei zwei Jahren, falls sie 48 Monate in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben.

Danach gibt es in der Regel das deutlich niedrigere Arbeitslosengeld II, besser bekannt als Hartz IV. Viele Beschäftigte, die ihren Job verlieren, sind jedoch sofort darauf angewiesen, weil sie keinen Anspruch auf das Arbeitslosengeld I haben oder das Arbeitslosengeld I nicht reicht. Bei jedem Vierten ist dies der Fall - mit bitteren Folgen: Ein alleinstehender Hartz-IV-Empfänger erhält im Monat 409 Euro, plus Geld für die Miete. Das Arbeitslosengeld I beläuft sich im Durchschnitt auf 922 Euro. Die Angst, ins ungeliebte Hartz-IV-System abzurutschen, ist deshalb weit verbreitet. Hartz IV ist in Deutschland ein Symbol dafür geworden, wie schnell der Absturz in die Armut möglich ist. Und genau diese Ängste greift Schulz nun auf, wenn er das Arbeitslosengeld I länger zahlen und so das Risiko, zum Hartz-IV-Fall zu werden, verringern will.

Arbeitsmarktforscher sehen es jedoch kritisch, wenn Anreize für Arbeitslose geringer werden, sich schnell einen Job zu suchen. Schon 2007, kurz bevor das Arbeitslosengeld I für ältere Versicherte wieder verlängert wurde, hat das IAB daher längere Bezugszeiten abgelehnt. Ein solcher Vorschlag sei "gut gemeint und populär", hieß es damals in einer Stellungnahme für den Bundestag. Viele Studien zeigten aber, "dass eine Verlängerung des Anspruchs auf Arbeitslosenunterstützung den Verbleib in Arbeitslosigkeit verlängert". Dies eröffne "gerade den Älteren eine Perspektive, sich frühzeitig vom Arbeitsmarkt zurückzuziehen".

Firmen wollen mit befristeten Verträgen flexibel bleiben

Der andere Vorschlag des SPD-Kanzlerkandidaten ist vermutlich ähnlich populär - und genauso umstritten: Schulz will die Zahl befristeter Arbeitsplätze verringern. Derzeit müssen sich in Deutschland fast drei Millionen Arbeitnehmer mit einem zeitlich befristeten Job begnügen. Der Anteil der Beschäftigen mit solchen Verträgen ist aber laut Statistischem Bundesamt zuletzt leicht gesunken - wohl auch, weil aufgrund der starken Nachfrage nach Arbeitskräften die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer besser geworden ist.

Noch können Unternehmen Mitarbeiter ohne Angabe von Gründen für bis zu zwei Jahre befristet anstellen. Geht es nach Schulz, sollen diese Befristungen nur noch nach sachlichen Gründen möglich sein. Die Arbeitgeberverbände lehnen dies vehement ab. Schließlich sollen befristete Neueinstellungen helfen, dass Firmen flexibel agieren können und sich nicht gleich an einen Arbeitnehmer binden müssen.

Will der SPD-Kanzlerkandidat beide Vorschläge umsetzen, braucht er im Bundestag Mehrheiten. Mit der Union und der FDP ist dies wohl kaum möglich. Für die Reform der Agenda-2010-Reform müsste Schulz schon ein rot-rot-grünes Bündnis schmieden.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3387286
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 21.02.2017/vd
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.