Arbeitslose in Deutschland:"Die Problemfälle bleiben zurück"

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Hat das reiche Deutschland tatsächlich die ärmsten Arbeitslosen? Ihr Risiko, in die Armut abzurutschen, ist jedenfalls laut einer Statistik mit 70 Prozent im EU-Vergleich besonders hoch. Experte Holger Bonin erklärt, warum diese Zahl nur auf den ersten Blick schockierend ist - und warum eine Anhebung der Grundsicherung das Problem nicht löst.

Hannah Beitzer

Auf den ersten Blick sind es alarmierende Zahlen: Arbeitslose in Deutschland haben im EU-weiten Vergleich ein besonders hohes Risiko, in die Armut abzurutschen. Das berichtet die Berliner Zeitung unter Berufung auf Daten der europäischen Statistikbehörde Eurostat aus dem Jahr 2010. Demnach waren hierzulande 70 Prozent der Erwerbslosen armutsgefährdet, im EU-Durchschnitt waren es dagegen lediglich 45 Prozent. Der Arbeitsmarktforscher Holger Bonin vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim erklärt, warum in Deutschland verhältnismäßig viele Arbeitslose arm sind, welche Rolle die Hartz-IV-Reformen spielen und wie man Arbeitslose aus der Armutsfalle holt.

SZ: Herr Bonin, warum haben deutsche Arbeitslose ein so hohes Risiko, in die Armut abzurutschen?

Bonin: Entscheidend ist die Absicherung für Langzeitarbeitslose. Bei den Kurzzeitarbeitslosen, also dem Arbeitslosengeld I, steht Deutschland jedenfalls besser da als der Durchschnitt der OECD. Die soziale Grundsicherung für Arbeitslose, also das Arbeitslosengeld II, ist bei uns hingegen weniger großzügig als in vielen EU-Ländern. Häufig gibt es dort länger Transferzahlungen, die vom Nettoeinkommen in der letzten Beschäftigung abhängen. In Deutschland dagegen fallen die meisten Arbeitslosen spätestens nach einem Jahr in Hartz IV.

SZ: Also sind die Hartz-IV-Reformen Schuld an der schlechten Situation der Arbeitslosen?

Bonin: Bis zu den Hartz-IV-Reformen gab es für Langzeitarbeitslose nicht nur die Sozialhilfe, sondern auch die Arbeitslosenhilfe, die an das vorherige Nettoeinkommen gekoppelt war. Jemand, der einmal einen Anspruch auf Arbeitslosengeld erworben hatte, konnte im Anschluss die Arbeitslosenhilfe praktisch bis zur Rente bekommen. Heute fällt er hingegen schnell in die Grundsicherung. Das spielt sicher eine Rolle. Aber dafür zeigt diese Politik durchaus die gewünschten Effekte: Für Leute mit höherem Einkommen, die arbeitslos werden, ist die Wahrscheinlichkeit, länger als ein Jahr ohne Beschäftigung zu bleiben, heute sehr viel geringer als früher.

SZ: Wenn nicht bei den Hartz-IV-Reformen - wo liegt dann das Problem?

Bonin: Unter anderem daran, dass wir in Deutschland trotz dieses Fortschritts noch einen besonders hohen Anteil an Langzeitarbeitslosen haben. Im Jahr 2010 waren im EU-Durchschnitt 39,9 Prozent aller Arbeitslosen länger als ein Jahr ohne Arbeit - bei uns waren es 47,4 Prozent. Und da Langzeitarbeitslose weniger Einkommen haben als Kurzzeitarbeitslose, bedeutet dies, dass der Anteil der Arbeitslosen mit erhöhtem Armutsrisiko in Deutschland überdurchschnittlich ist

SZ: Warum gibt es denn in Deutschland so viele Langzeitarbeitslose?

Bonin: Das liegt nicht zuletzt an der stark gesunkenen Arbeitslosenquote. Wenn mehr und mehr Leute wieder in Arbeit bekommen, dann bleiben vor allem die Problemfälle in der Arbeitslosigkeit zurück. Oft ist es die Kombination aus geringer Qualifikation, geringer Berufserfahrung und gesundheitlichen Problemen, die zu Langzeitarbeitslosigkeit und Armut führt.

SZ: Das heißt also: Wenn die Arbeitslosenquote eines Landes sinkt, dann steigt das Armutsrisiko unter den Arbeitslosen?

Bonin: Genau. Hinzu kommt, dass Menschen mit besonderen Problemen - wenn sie dann doch Arbeit bekommen - häufig nur kurz beschäftigt sind oder nur ein geringes Gehalt bekommen. Wenn sie dann den Job wieder verlieren, fallen sie gleich zurück in Arbeitslosengeld II. Die Arbeitslosenversicherung springt nämlich nicht mehr ein oder ihre Leistung reicht nicht zum Leben. Der typische Fall ist ein 400-Euro-Job, der einem keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld I verschafft.

SZ: Einige Experte fordern, den Anspruch auf Arbeitslosengeld I zu verlängern, damit das Armutsrisiko sinkt ...

Bonin: Das ist eine schwierige Geschichte. In der Tat muss man Arbeitslosen am Anfang eine angemessene Absicherung geben, so dass sie Zeit haben, eine adäquate Beschäftigung zu finden. Andererseits sollte man das Absicherungsniveau nach unten fahren, je länger die Arbeitslosigkeit dauert.

SZ: Um den Druck auf die Arbeitslosen zu verstärken?

Bonin: Man muss bedenken: Im Laufe der Arbeitslosigkeit gehen Qualifikationen verloren, da kann sich die Arbeitslosenversicherung nicht mehr am Nettoeinkommen im letzten Job orientieren. Unsere Erfahrung der letzten Jahre haben aber durchaus gezeigt, dass ein verkürzter Anspruch auf Arbeitslosengeld I Leute schneller zurück in den Beruf bringt. Darum sollte man mit einer Verlängerung sehr vorsichtig sein, um diesen Erfolg nicht zu verspielen.

SZ: Was kann man dann tun, um das Armutsrisiko zu senken?

Bonin: Langfristig müssen wir zusehen, dass wir die Gründe dafür bekämpfen, dass ein Mensch lange Zeit arbeitslos ist. Das beste Mittel gegen Armut ist immer noch Bildung. Wir müssen verhindern, dass immer noch zehn Prozent eines Jahrgangs keinen Berufsabschluss erreichen. Denn ohne Ausbildung wird es immer schwerer, aus der Armut herauszukommen. Und auch diejenigen, die heute langzeitarbeitslos sind, müssen wir noch enger an die Hand nehmen, um ihre Chancen auf besser bezahlte Beschäftigung zu verbessern.

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