Es ist später Morgen, die grelle Augustsonne brennt auf den staubigen Wiener Beton. Die zwanzig Männer lässt das unbeeindruckt, auch wenn die Schweißperlen ihre Schläfen herabrinnen. Zwischen zwei Tankstellen und einem orangefarbenen Baumarkt, direkt an einer viel befahrenen Straße, drehen sie in ausgelatschten Turnschuhen ihre Kreise. Sie warten auf ein Auto, das sie mitnimmt. Auf körperliche Arbeit und ein bisschen schnelles Geld. Viele der Männer kommen täglich zum sogenannten Arbeiterstrich am Matzleinsdorfer Platz, im Süden der österreichischen Hauptstadt. Die meisten sind aus Bulgarien und Rumänien, einige auch aus Ungarn und der Slowakei. Manche sind so jung, dass nur ein Flaum die Wangen bedeckt, andere haben kaum noch Haare auf dem Kopf. Wer sich ihnen nähert, bekommt ihre Dienste in brüchigem Deutsch angeboten: "Fliesen? Estrich? Alles kann!" Dabei heben sie ihre Hände, zeigen zuerst zehn Finger, dann nur mehr sieben, später fünf: ihr Stundenlohn.
"So etwas würde ich nie machen", entfährt es Gábor Szűcz und er schüttelt den Kopf. Einige Kilometer entfernt, am anderen Ende Wiens, steht der 41-jährige Ungar mit dem säuberlich gestutzten Oberlippenbart an seiner Werkbank und schneidet wellenförmige Linien in weißes Styropor. Der dunkelhaarige Orthopädietechniker fertigt in dem mittelgroßen Unternehmen körperangepasste Sitzschalen für Rollstühle. Er trägt ein enges weißes T-Shirt und Jeans, eine lange Silberkette baumelt von seinem Hals herab. Sie gibt einen dumpfen Ton ab, sobald sie die hölzerne Arbeitsplatte berührt.
2011 wurde der österreichische Arbeitsmarkt für die EU-Mitglieder Ungarn, die Slowakei, Slowenien, Polen und Tschechien geöffnet, 2014 für Rumänien und Bulgarien. Seither wächst die Zahl der Arbeitnehmer aus diesen Staaten stetig, mehr als 300 000 sind es schon. Gábor Szűcz war einer der ersten, der sich erfolgreich einen Job auf der anderen Seite der Grenze suchte. Weil er gut ausgebildet ist, fließend Deutsch spricht und in seiner Branche ein ständiger Fachkräftemangel herrscht, ist er einer der Gewinner des grenzüberschreitenden Arbeitsmarktes der EU.
Das sperrige Wort "Arbeitnehmerfreizügigkeit" hat Gábor Szűcz viele Sperren im Leben genommen. Er muss nicht in der Augusthitze vor einem Wiener Baumarkt stehen, er muss keine Schwarzarbeit für fünf Euro die Stunde verrichten, und er muss auch nicht wie die vielen Jahre zuvor, drei Jobs gleichzeitig machen, weil ein Lohn in Ungarn oft nicht zum Leben reicht. "Zu Hause würde ich Vollzeit höchstens 700, 800 Euro verdienen, hier bekomme ich das Doppelte für die gleiche Arbeit", sagt Szűcz, dessen ungarischer Akzent leicht sein breites Wienerisch färbt. "Die EU hat meinen Status verbessert." Erst kürzlich tauschte er seinen kleinen Opel gegen einen glänzend schwarzen BMW, gebraucht zwar, aber doch ein Stück Wohlstand, dessen Foto nun sein Facebook-Profil ziert.
Gábor Szűcz' Geschichte ist eine der vielen, die hinter den Zahlen zur Arbeitsmarktöffnung für osteuropäische EU-Staaten stecken. Zum Beispiel: 84 000. So viele Ungarn arbeiten dem Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (Wifo) zufolge 2018 in Österreich - vor zehn Jahren waren es noch 10 000. Oder, eine andere Zahl: 30 000. So viele Ungarn pendeln täglich zur ihrem Arbeitsplatz in Österreich. Auch Szűcz fährt jeden Tag die 130 Kilometer zwischen seinem Wohnort, der westungarischen Stadt Györ, und Wien. Jeden Morgen und Abend, fünf Tage die Woche. Seitdem die Österreicher wegen der Flüchtlingskrise wieder ihre Grenzen kontrollieren, steht er früher auf. Um fünf Uhr ist er meistens schon auf der Autobahn. "Das Pendeln ist weniger anstrengend als mein früheres Leben. Damals hatte ich kein Wochenende frei, weil ich da meine Nebenjobs erledigen musste." Da sei kaum Zeit für seine Freundin und seine Familie geblieben. Das alles sei heute viel besser.
Ungarn sind in der Grenzregion nicht nur Arbeiter, sondern auch Kunden
Österreichs Wirtschaft profitiert von Menschen wie Gábor Szűcz. Viele Firmen finden schlicht kein geeignetes einheimisches Personal mehr. Vor allem Fachkräfte fehlen, aber auch Geringqualifizierte für den Niedriglohnsektor wie Bau oder heimische Pflege, wo kaum noch Österreicher arbeiten. Ungarn sind in der Grenzregion außerdem nicht nur Arbeiter, sondern auch Kunden. Wer die Sprache der zahlungskräftigen Grenzgänger spricht, ist dort besonders im Handel und in der Gastronomie gefragt. Ähnlich verhält es sich in den Grenzregionen zur Slowakei und zu Tschechien. "Alle Studien haben uns gezeigt, dass Österreich wirtschaftlich einer der größten Profiteure der EU-Erweiterung ist", sagt der Arbeitsmarktforscher Peter Huber vom Wifo. "Als kleines Land, in dieser geografischen Lage, kann Österreich nur von mehr Integration profitieren."
Aber natürlich ist nicht alles nur positiv, das muss auch der Arbeitsmarktforscher einräumen. "Es gibt immer mehrere Seiten", sagt Huber. So gibt es auch Österreicher, die sich gegen die günstigere Konkurrenz nicht mehr behaupten können oder das zumindest so empfinden. Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) stellte erst kürzlich wieder die EU-Personenfreizügigkeit infrage. Wenn Menschen, die gut qualifiziert sind und "zu viel verdienen", in die Arbeitslosigkeit gedrängt werden, "weil sie von günstigeren Arbeitskräften ersetzt werden", müsse man über die Freizügigkeit diskutieren. "Sorgen gibt es immer", sagt Huber. Belege dafür, dass österreichische Arbeitnehmer durch billige Arbeitskräfte aus dem Osten verdrängt würden, hingegen kaum. Dennoch will die Wiener Regierung, um Österreich unattraktiver für die Osteuropäer zu machen, die Familienbeihilfe für diese auf das Niveau des Herkunftslandes kürzen.
Das hätte unkalkulierbare Folgen. Denn am meisten betroffen wären davon die vielen osteuropäischen 24-Stunden-Pflegekräfte, die das Geld an ihre Kinder im Herkunftsland schicken - und ohne die das gesamte österreichische Pflegesystem kollabieren würde.
Zu den negativen Seiten gehört auch der Wiener Arbeiterstrich. Als EU-Bürger halten sich die Männer vom Matzleinsdorfer Platz legal in Österreich auf, doch meist fehlt ihnen die Ausbildung, um auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Vom "Luxus" einer Krankenversicherung oder von Mindestlöhnen können sie nur träumen. Sie warten oft stundenlang, bis sie ein Häuslbauer mitnimmt, der sich günstig das Bad renovieren lassen möchte. Oder ein Bauunternehmen, das noch ein paar Aushilfskräfte braucht. Hin und wieder straft die Polizei die Männer wegen "Verstellen des Gehweges" nach Paragraf 78 der Straßenverkehrsordnung. Das ist die einzige Handhabe, die sie hat. Für Schwarzarbeit wäre die Finanzpolizei zuständig.
Die Geschichten vom Wiener Arbeiterstrich finden sich hinter keiner der offiziellen Zahlen zur Arbeitsmarktöffnung. Denn die Statistiken bilden nur einen Teil ab, wie die Soziologin Laura Wiesböck von der Universität Wien betont. "Nur wer in Österreich sozialversichert ist, fällt darunter. Also nur die Menschen, die bereits erfolgreich in den Arbeitsmarkt integriert sind", erklärt Wiesböck. "Aber es gibt eben auch viele Menschen, die nirgendwo aufscheinen, weil sie schwarz bezahlt werden."
Im Rahmen des Projekts Translab hat die Soziologin mit einem Forschungsteam 1300 Arbeitnehmer aus den Grenzregionen Tschechien, Slowakei und Ungarn sowie Unternehmer und Bürgermeister befragt. Dabei dokumentierten sie unzählige Fälle von prekären Arbeits- und Wohnbedingungen - beispielsweise bei der Weinernte im Burgenland, das direkt an Ungarn grenzt. "Viele der ungarischen Hilfsarbeiter sprechen kein Deutsch. Sie werden mit Bussen abgeholt und auf die Felder gebracht. Dafür bekommen sie drei Euro die Stunde, Sanitäranlagen gibt es meist keine", sagt die Soziologin. Für die Studie hat sie auch mit Müttern gesprochen, die ihre Kinder ins Heim bringen, während sie in Österreich pflegebedürftige Menschen in ihren Wohnungen betreuen. Oder mit Ostungarn, die in den Westen ihres Landes ziehen und sich in Kellern einmieten, um hinter der Grenze Arbeit zu suchen. Viele bleiben erfolglos, sagt Wiesböck. Unternehmer in Österreich hätten ihr von dreihundert ungarischen Bewerbungen auf eine Stelle erzählt. Die Nachfrage sei also weit höher, als die offiziellen Zahlen vermuten lassen, folgert die Soziologin. Selbst wenn die Pendler ordnungsgemäß angestellt werden, steigen sie oft schlechter aus, sagt Wiesböck. "Wir haben in unserer Studie die Löhne in derselben Branche verglichen: Sie verdienen im Durchschnitt die Hälfte des Stundenlohns ihrer österreichischen Kollegen."
Gábor Szűcz hat es besser getroffen, aber er kennt solche Fälle. Er führt in die Teeküche und macht die Tür hinter sich zu. "Da ich fließend Deutsch spreche, habe ich selten Probleme. Aber viele meiner ungarischen Bekannten, werden schon hin und wieder angefeindet und ausgegrenzt." Szűcz spielt mit seiner Silberkette während er weitererzählt: "Manche bekommen auch ihren Lohn nicht ausgezahlt. Da sie kein Deutsch können, machen sie keine Anzeige und lassen sich ausbeuten." Dem Orthopädietechniker ist es wichtig, zu betonen, dass er selbst selten solche Erfahrungen gemacht habe. Er sei schließlich "Meister in diesem Beruf", da lasse er sich nichts gefallen. "Ich würde einfach hingehen und sagen: ,Oida, das steht mir zu."
Warum er den Morgen am Arbeiterstrich verbringt? "Gut Geld", sagt der Mann
Eigentlich sollte das EU-Recht eine ungleiche Behandlung verhindern. Denn die Freizügigkeit legt fest, dass es keine auf der Nationalität beruhende unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedsstaaten geben darf. Sei es bei der Entlohnung oder den Arbeitsbedingungen. Manche Unternehmer würden aber eine "legale Form von Lohndumping" einsetzen, sagt Wiesböck. So würde etwa Arbeitserfahrung im Ausland nicht angerechnet und nur der Einstiegslohn laut Tarifvertrag bezahlt - auch wenn der Arbeitnehmer bereits zehn Jahre in dem Beruf tätig sei. Andere würden deutlich unter ihren Qualifikationen eingesetzt. Der Lohnunterschied zur Heimat sei aber trotzdem immer noch so groß, dass es sich für die Menschen lohne, sagt Wiesböck. "Für sie steht der ökonomische Zugewinn im Vordergrund. Und für manche wären Armut oder Arbeitslosigkeit die Alternativen."
"Gut Geld", sagt auch der dunkelhaarige Mann, wenn er gefragt wird, warum er jeden Morgen am Arbeiterstrich verbringt. Seinen Namen will er nicht in der Zeitung sehen, aber der Mann im mittleren Alter erzählt bereitwillig mit den wenigen gelernten deutschen Wörtern aus seinem Leben. Er sei aus Rumänien. Jeden Monat fahre er für ein paar Wochen nach Wien. Geld verdienen, meistens am Bau. Er holt sein Handy aus der Tasche, streicht ein paar Mal über die Anzeige und zeigt es in die Runde. "Für gute Leben für Familie", sagt er lächelnd. Auf dem Bildschirm sind zwei kleine Mädchen zu sehen.