Arbeitgeber-Tricks gegen Lohnuntergrenze:Von wegen Mindestlohn

Frühling in München

Ab 2015 gilt der Mindestlohn von 8,50 Euro, auch für die Gastronomie.

(Foto: David Kluthe/dpa)

Längere Arbeitszeiten, unbezahlte Überstunden, mehr Scheinselbständige: Gewerkschaften fürchten, dass Arbeitgeber die neue Lohnuntergrenze einfach umgehen werden. Vor allem in kleinen Betrieben wird die Kontrolle schwierig.

Von Thomas Öchsner, Berlin

Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Auch in Hotels und Gaststätten wird der Mindestlohn von 8,50 Euro gelten. Sofort vom 1. Januar 2015 an und ohne Sonderregeln für einen stufenweisen Übergang. Der Gastgewerbeverband Dehoga und die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) konnten sich nicht auf einen abweichenden Tarifvertrag einigen, der es erlaubt hätte, die gesetzliche Lohnuntergrenze bis Ende 2016 zu unterschreiten. 1,8 Millionen Menschen arbeiten in der Branche, viele zu Niedriglöhnen unterhalb der 8,50 Euro. Insgesamt sollen vom Mindestlohn 3,7 Millionen profitieren, verspricht Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD). Aber werden sie dies wirklich?

Wer sich in diesen Tagen mit Gewerkschaftssekretären unterhält, den Menschen, die sich an der Basis um die Belange von Arbeitnehmern kümmern, stößt auf eine weit verbreitete Sorge: Sie fürchten, dass Arbeitgeber versuchen werden, die neue gesetzliche Lohnuntergrenze zu unterlaufen. Das zeichnet sich bereits ab, die Vorreiter sind längst unterwegs.

Unbezahlte Überstunden

Etwa eine Million Menschen mit Löhnen unterhalb der 8,50 Euro leisten nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) schon jetzt Überstunden, die der Arbeitgeber nicht oder nur teilweise bezahlt oder durch Freizeit ausgleicht. Die beiden DIW-Experten Karl Brenke und Gert Wagner stellten deshalb kürzlich in einem Gastbeitrag für die SZ fest: "Eine Möglichkeit, die Mindestlohn-Regelungen zu umgehen, besteht darin, unbezahlte Mehrarbeit leisten zu lassen." Dafür böten sich "vor allem Manipulationen bei den Arbeitszeiten" an. "Damit nicht bei der Abrechnung der Löhne Stunden angesetzt werden, die 70 oder mehr Minuten dauern", sei es nötig, dass auch Kleinbetriebe die Arbeitszeiten dokumentieren.

Flexible Minijobs

Auch für Minijobber, die maximal monatlich 450 Euro ohne Steuerabzüge verdienen dürfen, aber damit selten über 8,50 Euro die Stunde kommen, soll der Mindestlohn gelten. Allein im Gastgewerbe sind mittlerweile 850 000 solche geringfügig Beschäftigte angestellt. Der Berliner NGG-Sekretär Sebastian Riesner warnt davor, dass künftig "mit Sicherheit an der Stundenzahl der Minijobber herumgedoktert wird", um auf dem Papier die Lohnuntergrenze zu erreichen. Dies befürchtet auch ein Sprecher der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi: "Arbeitgeber könnten eine Drohkulisse aufbauen und sagen, wenn wir mehr als 450 Euro bezahlen, habt ihr mehr Abzüge und bekommt netto weniger heraus." Er sieht die Gefahr, dass viele der geringfügig Beschäftigten unbezahlt ein paar Stunden länger arbeiten müssten.

Neue Teilzeitstellen

Umgekehrt geht es auch: In manchen Friseurgeschäften verkürzen sich die Arbeitszeiten der Beschäftigten derzeit auf wundersame Weise. In dieser Branche gelten bereits tariflich vereinbarte Lohnuntergrenzen. "Um diese rechnerisch zu erreichen, werden auf dem Papier Vollzeit- in Teilzeitstellen umgewandelt. Der Rest sind Überstunden ohne Vergütung oder schwarz bezahlt", sagt der Verdi-Sprecher.

Undurchsichtiger Stücklohn

Nach den DIW-Berechnungen gibt es etwa eine Million gering entlohnte Beschäftigte, für die überhaupt keine Arbeitszeit festgelegt wurde. Bei den Zeitungsausträgern hängt der Lohn von der Anzahl der verteilten Exemplare ab. Der angestellte Taxifahrer oder der Mitarbeiter im Callcenter ist am Umsatz beteiligt. In der Landwirtschaft werden Saisonarbeiter häufig nach geernteten Kilogramm bezahlt. Überall dort, wo ein solcher Stücklohn üblich und unklar ist, wie auf Zeitstunden umzustellen ist, besteht die Gefahr, dass der Mindestlohn umgangen wird. Das befürchtet die Zoll- und Finanzgewerkschaft, in der die für die Kontrollen zuständigen Mitarbeiter der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) organisiert sind. Nur wenn es transparente Vorschriften gebe, könnte die FKS "Abrechnungsbetrug aufdecken und wirksam bekämpfen". Doch die seien bislang nicht vorhanden.

Mehr Scheinselbständige

Die Gewerkschaft der Zollbeamten warnt zugleich vor einem "erheblichen Anstieg der Scheinselbständigkeit". Am Bau ist dieses Phänomen schon lange bekannt. Die dort geltende Lohnuntergrenze würden manche Subunternehmen umgehen, "indem sie Arbeiter, meist aus Osteuropa, in die Scheinselbständigkeit drängen", sagt Robert Feiger, Bundesvorsitzender der IG Bau. Sie arbeiteten dann auf Werkvertragsbasis. "Von sogenannten Vermittlern werden sie zu den Ämtern gebracht und unterschreiben dort eine Gewerbeanmeldung." Diese werde ihnen häufig "als Formalie verkauft und mangels Sprachkenntnissen wissen sie nicht einmal, dass sie nunmehr als Einzelselbständige gelten". Ein ähnliches Phänomen entdeckt NGG-Sekretär Riesner zunehmend auch in der Reinigungsbranche: "In deutschen Hotels etablieren sich ausländische Dienstleister, für die Zimmermädchen aus Rumänien oder Bulgarien auf scheinselbständiger Basis arbeiten." Bei den Paketzustellern ist es schon lange üblich, dass viele nicht bei den großen Unternehmen angestellt sind, sondern als selbständige Ausfahrer für Subunternehmen arbeiten. "Heraus kommen dabei häufig nur Stundenlöhne von fünf bis sieben Euro bei teilweise extrem langen Arbeitszeiten", sagt die Stuttgarter Verdi-Fachfrau Anette Sauer.

Besondere Abzüge

Ob Erntehelfer in der Landwirtschaft, Kellnerinnen im Gartenlokal oder Putzfrauen im Hotel - solche Arbeitskräfte sind in der Hochsaison häufig nur vorübergehend beschäftigt. In vielen Fällen erhalten sie vom Arbeitgeber einen Schlafplatz und ihr Essen. Hier sieht der Verdi-Sprecher die Gefahr, dass Betriebe dafür künftig mehr Kosten in Rechnung stellen, um die zusätzlichen Ausgaben für die Einhaltung des Mindestlohns auszugleichen. Das befürchtet die NGG auch in der Fleischindustrie, etwa bei den Abzügen für den Wohnraum oder das Reinigen von Wäsche.

Für den Verdi-Mann ist klar: "Wer den Mindestlohn bewusst unterläuft, macht sich strafbar. Dazu gehört kriminelle Energie, das ist kein Kavaliersdelikt." Andererseits müssen Arbeitnehmer dabei mitmachen. Gründe dafür gibt es genug: die Angst um den Job, das enge Verhältnis zum Chef, von dem man glaubt, dass er sich den Mindestlohn nicht leisten kann - oder fehlendes Wissen über die eigenen Rechte. Viele Arbeitnehmer "werden sich nicht trauen, zu einer Beschwerdestelle zu laufen, um ihren Arbeitgeber anzuschwärzen", stellen die DIW-Forscher Brenke und Wagner fest. Hinzu komme, dass nur etwa ein Drittel der Arbeitnehmer, die weniger als 8,50 Euro verdienen, in einem Unternehmen mit Betriebsrat tätig seien. Nötig sei deshalb "eine wirksame Vor-Ort-Kontrolle".

Doch die wird auch mit zusätzlich 1600 neuen Fahndern, die nur schrittweise eingestellt werden können, in Backstuben, Tante-Emma-Läden, Frisiersalons und Hunderttausenden anderen Kleinbetrieben kaum bundesweit möglich sein. NGG-Sekretär Riesner rechnet vor: Allein in Berlin gebe es mehr als 10 000 Gastronomie- und Hotelbetriebe. "Die Wahrscheinlichkeit, dass da unangemeldet ein Kontrolleur auftaucht und fündig wird, ist gering", sagt er und fügt hinzu: "Darauf beruhen ganze Kalkulationsgrundlagen."

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