Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Auch in Hotels und Gaststätten wird der Mindestlohn von 8,50 Euro gelten. Sofort vom 1. Januar 2015 an und ohne Sonderregeln für einen stufenweisen Übergang. Der Gastgewerbeverband Dehoga und die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) konnten sich nicht auf einen abweichenden Tarifvertrag einigen, der es erlaubt hätte, die gesetzliche Lohnuntergrenze bis Ende 2016 zu unterschreiten. 1,8 Millionen Menschen arbeiten in der Branche, viele zu Niedriglöhnen unterhalb der 8,50 Euro. Insgesamt sollen vom Mindestlohn 3,7 Millionen profitieren, verspricht Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD). Aber werden sie dies wirklich?
Wer sich in diesen Tagen mit Gewerkschaftssekretären unterhält, den Menschen, die sich an der Basis um die Belange von Arbeitnehmern kümmern, stößt auf eine weit verbreitete Sorge: Sie fürchten, dass Arbeitgeber versuchen werden, die neue gesetzliche Lohnuntergrenze zu unterlaufen. Das zeichnet sich bereits ab, die Vorreiter sind längst unterwegs.
Unbezahlte Überstunden
Etwa eine Million Menschen mit Löhnen unterhalb der 8,50 Euro leisten nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) schon jetzt Überstunden, die der Arbeitgeber nicht oder nur teilweise bezahlt oder durch Freizeit ausgleicht. Die beiden DIW-Experten Karl Brenke und Gert Wagner stellten deshalb kürzlich in einem Gastbeitrag für die SZ fest: "Eine Möglichkeit, die Mindestlohn-Regelungen zu umgehen, besteht darin, unbezahlte Mehrarbeit leisten zu lassen." Dafür böten sich "vor allem Manipulationen bei den Arbeitszeiten" an. "Damit nicht bei der Abrechnung der Löhne Stunden angesetzt werden, die 70 oder mehr Minuten dauern", sei es nötig, dass auch Kleinbetriebe die Arbeitszeiten dokumentieren.
Flexible Minijobs
Auch für Minijobber, die maximal monatlich 450 Euro ohne Steuerabzüge verdienen dürfen, aber damit selten über 8,50 Euro die Stunde kommen, soll der Mindestlohn gelten. Allein im Gastgewerbe sind mittlerweile 850 000 solche geringfügig Beschäftigte angestellt. Der Berliner NGG-Sekretär Sebastian Riesner warnt davor, dass künftig "mit Sicherheit an der Stundenzahl der Minijobber herumgedoktert wird", um auf dem Papier die Lohnuntergrenze zu erreichen. Dies befürchtet auch ein Sprecher der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi: "Arbeitgeber könnten eine Drohkulisse aufbauen und sagen, wenn wir mehr als 450 Euro bezahlen, habt ihr mehr Abzüge und bekommt netto weniger heraus." Er sieht die Gefahr, dass viele der geringfügig Beschäftigten unbezahlt ein paar Stunden länger arbeiten müssten.
Neue Teilzeitstellen
Umgekehrt geht es auch: In manchen Friseurgeschäften verkürzen sich die Arbeitszeiten der Beschäftigten derzeit auf wundersame Weise. In dieser Branche gelten bereits tariflich vereinbarte Lohnuntergrenzen. "Um diese rechnerisch zu erreichen, werden auf dem Papier Vollzeit- in Teilzeitstellen umgewandelt. Der Rest sind Überstunden ohne Vergütung oder schwarz bezahlt", sagt der Verdi-Sprecher.
Undurchsichtiger Stücklohn
Nach den DIW-Berechnungen gibt es etwa eine Million gering entlohnte Beschäftigte, für die überhaupt keine Arbeitszeit festgelegt wurde. Bei den Zeitungsausträgern hängt der Lohn von der Anzahl der verteilten Exemplare ab. Der angestellte Taxifahrer oder der Mitarbeiter im Callcenter ist am Umsatz beteiligt. In der Landwirtschaft werden Saisonarbeiter häufig nach geernteten Kilogramm bezahlt. Überall dort, wo ein solcher Stücklohn üblich und unklar ist, wie auf Zeitstunden umzustellen ist, besteht die Gefahr, dass der Mindestlohn umgangen wird. Das befürchtet die Zoll- und Finanzgewerkschaft, in der die für die Kontrollen zuständigen Mitarbeiter der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) organisiert sind. Nur wenn es transparente Vorschriften gebe, könnte die FKS "Abrechnungsbetrug aufdecken und wirksam bekämpfen". Doch die seien bislang nicht vorhanden.