Selbst bei der Zwischenprüfung hat Omar Camaras Hand so gezittert, dass er kaum schreiben konnte. Die 45 Fragen in 90 Minuten haben sich für ihn existenziell angefühlt, dabei ist die Klausur für die Zeugnisnote gar nicht wichtig. Tagsüber hatte der junge Mann monatelang Weizenbrote sortiert, abends für die Berufsschule gelernt. Überstunden für ein neues Leben. Der 23-Jährige macht im zweiten Jahr seine Ausbildung zum Verkäufer dort, wo andere jeden Samstagmorgen den Luxus des freien Wochenendes beginnen: an der Theke der Bäckerei Müller-Höflinger im Münchner Viertel Lehel. Nirgendwo in Deutschland sind die Mieten so hoch wie hier. Die Altbauten sind hell gestrichen, schon die Kinder tragen Armani. Im Laden herrscht Nostalgie, die Theke ist weiß-blau gekachelt, es gibt Fitnessbrot und Nussschnecken.
Zu dieser Welt will Omar Camara gehören. Er ist aus Sierra Leone hierher geflohen. "Damals dachte ich, dass in Europa das Geld auf der Straße liegt. Aber ohne Arbeit geht nichts." Der Weg vom ersten deutschen Wort bis zur letzten Prüfung ist lang und hart.
Camara hat einen ähnlichen Traum wie Hosein Hoseini. Der gebürtige Afghane, ebenfalls 23, steht mit weißer Kappe und Schürze an einem Herbstmorgen in der Backstube der Bäckerei Grundner im oberbayerischen Moosburg. Gerade schüttet er Salz in einen Bottich. Ein paar Klicks auf dem Bildschirm der Computerwaage, jeder Handgriff sitzt. Hoseini ist kein Anfänger mehr, er arbeitet als Bäckerlehrling im dritten Lehrjahr. "Aber vor ein paar Jahren wusste ich noch nicht einmal, was das Wort Ausbildung überhaupt bedeutet." Diese Jahre machen den Unterschied.
Menschen wie Omar Camara und Hosein Hoseini sind derzeit die große Hoffnung der kleinen deutschen Handwerksbetriebe. Seit Jahren finden viele Unternehmen kaum Nachwuchs - die Gründe reichen von der steigenden Zahl an Gymnasialabgängern über den demografischen Wandel bis zu den körperlich anstrengenden Arbeitsbedingungen des Handwerks. Im Ergebnis bleiben zu Beginn jedes Ausbildungsjahres Stellen unbesetzt, 20 000 sind es in diesem September.
Deutsch sprechen ist essenziell
Knapp 30 Prozent der bayerischen Handwerksbetriebe erklärten bei einer Befragung jüngst, sie würden einstellen, wenn sie Personal fänden. Es erscheint wie eine glückliche Fügung, dass derzeit so viele junge Menschen kommen. In diesem Jahr haben bis September knapp 84 000 Menschen zwischen 16 und 25 Jahren in Deutschland einen Asylantrag gestellt. Euphorische Stimmen wie die von Lothar Semper sind häufig: "Das Potenzial ist da, es muss nur abgerufen werden", sagte der Hauptgeschäftsführer des Bayerischen Handwerkstages vor wenigen Tagen auf einem Symposium zu Fachkräftesicherung und Zuwanderung - und sprach gleich darauf von "gewaltigen Herausforderungen".
Denn: Damit aus potenziellen Lehrlingen wie Camara und Hoseini Azubis werden, reicht oft der pure Wille nicht. Die Aufgaben, vor denen Meister und Lehrlinge stehen, sind zwar in ihrer Dramatik nicht mit einer Flucht über Ländergrenzen vergleichbar. Doch einmal angekommen gibt es so viele Schwierigkeiten, dass Hoffnung und Alltag erst einmal hart kollidieren, bevor es in Richtung einer Lösung gehen kann. Und bis die in Aussicht ist, dauert es Monate, wenn nicht Jahre.
Die meisten Schwierigkeiten, in der Regel formale, zeigen sich schon in den ersten Tagen in Deutschland, beim ersten Hallo. Denn Sprache gilt einerseits als der wichtigste Baustein - sie ist der Weg in den Arbeitsmarkt, zu einer Wohnung, zu sozialen Kontakten und zur Integration. Doch gerade diese Struktur entsteht erst: In manchen Orten gibt es mittlerweile Ehrenamtliche, die Deutsch unterrichten, woanders Schulklassen oder Vereine, die sich darauf spezialisiert haben - doch ob und wie jemand in einem Kurs landet, hängt oft an einem Faktor: Glück.
Genau das hat Hosein Hoseini. Als er 2011 im Asylbewerberheim Isareck in Wang ankommt, spricht er kein Wort Deutsch. Kurse von Ehrenamtlichen, geschweige denn vom Staat, gibt es damals kaum, ein wenig bringt er sich im Selbststudium in der Unterkunft bei. Monate vergehen. Schließlich ermöglichen ihm ein Moosburger Flüchtlingshelfer und private Sponsoren einen Kurs in einer privaten Sprachschule. Ein Jahr dauert es, bis er das Sprachniveau B2 erreicht, auf dem man sich laut europäischem Referenzrahmen "mit Muttersprachlern ohne größere Anstrengung" unterhalten kann. Auch Camara muss sich jedes Wort einzeln erkämpfen. Er hat nur drei Jahre Schule und Aushilfsjobs hinter sich, als er nach Deutschland kommt. In einer Klasse für Flüchtlinge holt er den Mittelschulabschluss nach.