Süddeutsche Zeitung

Arbeit:Nachhaltig überfordert

Ein neues Gesetz sollte die Mitarbeiter in Jobcentern eigentlich entlasten. Stattdessen habe es für mehr Arbeit gesorgt, kritisieren sie. Die Arbeitslosen frustriert es.

Von Kristiana Ludwig, Berlin

Als Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) im Frühjahr ihre Reform des Hartz-IV-Gesetzes vorstellte, da ging es ihr nicht nur um Arbeitslose - sondern vor allem um ihre eigenen Mitarbeiter. Sie werde "die Arbeit der Jobcenter nachhaltig erleichtern", sagte Nahles, das Recht vereinfachen, damit die Berater und Verwaltungsangestellte mehr Zeit für die Betreuung bekämen. Doch knapp einen Monat, nachdem viele der neuen Regeln in Kraft getreten sind, erheben Jobcenter-Mitarbeiter schwere Vorwürfe gegen die Ministerin: Ihr Gesetz habe das Gegenteil bewirkt und die Überlastung der Mitarbeiter noch verschärft.

In einem Brief an die Arbeitsministerien der Bundesländer und an Nahles' Haus listen die Personalräte der Jobcenter auf, was aus ihrer Sicht schwieriger geworden ist und nicht leichter: Jobcenter sollen Hartz-IV-Empfänger künftig auch dann noch beraten, wenn sie bereits einen Job gefunden haben. Sie sollen die Menschen ausführlicher über ihre Rechte aufklären und sich auch um Azubis kümmern, deren Lohn nicht zum Leben reicht. "Wir finden es gut, die Beratung zu verbessern, aber wir brauchen mehr Mitarbeiter, um das zu schaffen", sagt Moritz Duncker aus dem Vorstand der Jobcenterpersonalräte.

Eigentlich weiß Andrea Nahles schon lange, dass sich die Mitarbeiter der Jobcenter überfordert fühlen. Bereits vor drei Jahren hat sie das Beratungsunternehmen Bearing Point beauftragt, den Personalbedarf in denjenigen Abteilungen der Jobcenter zu untersuchen, die das Arbeitslosengeld auszahlen. 200 bis 600 Vollzeitstellen hätten damals in dieser Sparte bundesweit gefehlt, sagte Staatssekretär Thorben Albrecht im April vergangenen Jahres. Zwar sind diese Stellen mittlerweile besetzt, doch die Personalräte kritisieren, dass sich die Ministerin seitdem nicht mehr bemüht habe, die Mitarbeiterzahlen den realen Anforderungen in den Jobcentern anzupassen.

Arbeitslose sind frustriert darüber, dass die Zuständigen häufig wechseln

In einem zweiten Brief an die Minister, welcher der Süddeutschen Zeitung vorliegt, beschreiben die Mitarbeitervertreter, wie Nahles zunächst die Gespräche über eine neue Stellenberechnung in die Länge zog und dann offenbar ganz abbrach. Nach langen Debatten mit Ländern und Kommunen holten ihre Mitarbeiter demnach im Dezember ein Schreiben der Arbeitsagentur hervor: Man lehne die Studie zum Personalbedarf grundsätzlich ab, stand darin. Schließlich würden so "keine Potenziale für Verbesserungen, sondern in der Regel Stellenbedarfe ausgewiesen". Damit habe das Ministerium das Projekt für gescheitert erklärt. Auf einen Alternativvorschlag warteten die Mitarbeitervertreter bis heute vergeblich.

Auf Anfrage heißt es aus dem Arbeitsministerium, dass die Belastung der Jobcenter längst gesunken sei. Ein Mitarbeiter kümmere sich heute um Geldangelegenheiten von 107 sogenannten Bedarfsgemeinschaften, also Familien von Hartz-IV-Empfängern. Im Jahr der Studie seien es noch 116 gewesen. Personalrat Duncker widerspricht. Die Statistik zähle auch Mitarbeiter am Empfang mit, die Zahlen seien verzerrt. Seiner Erfahrung nach kümmere sich ein Kollege um 250 bis 300 Familien. Auch deshalb forderten die Personalräte vom Ministerium, die Gespräche über eine faktenbasierte Berechnung der Stellen fortzusetzen.

Als das Beratungsunternehmen 2013 die Mitarbeiter danach fragte, was ihnen die meiste Zeit raube, nannten fast 80 Prozent von ihnen die sogenannten Rückforderungen. Denn vor allem Geringverdiener, die mit Hartz IV ihren schmalen Lohn aufstocken, müssen regelmäßig Beträge an das Jobcenter zurückzahlen: Wenn ihr Einkommen schwankt und die Behörde mehr zugeschossen hat, als sie müsste, bekommen sie zum Teil Monate später eine Rechnung. Selbst Kleinstbeträge von wenigen Euro fordern die Ämter zurück. Wer nicht zahlt, der bekommt Mahnungen. Denn auch bei Cent-Beträgen kennt die Arbeitsagentur keine Kulanz.

Während der Beratungen für das neue Gesetz hatten viele Experten gefordert, Arbeitslosen und Jobcentern das Leben zu erleichtern, indem auf die Eintreibung von Kleinstbeträgen verzichtet wird. Doch Nahles blieb bei der aufwendigen Praxis.

Harald Thomé vom Erwerbslosenverein Tacheles in Wuppertal sagt, die überlasteten Mitarbeiter führten bei den Arbeitslosen zu viel Frustration. Oft bleibe nicht genug Zeit für den einzelnen Fall: Die Zuständigen wechselten häufig, Fehler passierten. Auch die bis zu 3600 zusätzlichen Jahreskräfte, die Arbeitsagenturen und Jobcenter erhalten sollen, um sich um Asylbewerber und anerkannte Flüchtlinge zu kümmern, schafften wenig Abhilfe, glaubt die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen, Brigitte Pothmer: "Zwar hat die Regierung in diesem Jahr erstmals wieder mehr Geld für Personal zur Verfügung gestellt. Das deckt aber gerade mal den zusätzlichen Bedarf für die Betreuung von Flüchtlingen", sagt sie. "An den strukturellen Mängeln bei der Jobcenterausstattung ändert sich dadurch nichts."

Die Gewerkschaft Verdi hat sich am Freitag ebenfalls für mehr Mitarbeiter in den Jobcentern ausgesprochen. Die Personalausstattung müsse sich "an Art und Inhalt der Aufgabe orientieren", heißt es in einem Schreiben. Die Arbeitnehmervertreter fordern hier zudem eine "unbefristete Beschäftigung" in den Ämtern.

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SZ vom 27.08.2016
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