Apps für Blinde:Wie Smartphone-Videos Blinden im Alltag helfen
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Von Pia Ratzesberger
Leih mir dein Augenlicht! Die Einlösung der Bitte scheint unmöglich zu sein, doch im Zeitalter von Smartphones und mobilem Internet gilt das nicht mehr. Wenn Christian Schöpplein nicht genau weiß, welche Packung die richtigen Tabletten enthält oder auf welches Klingelschild des Mietshauses er nun drücken muss, schaltet er sein Handy ein.
Sein Augenlicht.
Die App "Be my Eyes" vermittelt den 39-Jährigen dann an einen Sehenden, der sich bei der App registriert hat, egal ob in der gleichen Stadt oder auf einem anderen Kontinent. Die Videofunktion des Handys gibt für einen Moment Einblick in die Welt Schöppleins, der freiwillige Helfer kann ihm sagen, wo er klingeln muss oder welche Box im Apothekenschrank die richtige ist. Digitale Hilfe innerhalb von Sekunden.
Zwar gibt es bereits Apps und Handyeinstellungen, die Blinden und Sehbehinderten den Alltag erleichtern sollen. "Voiceover" zum Beispiel, der Vorlesemodus des iPhones, der die Nutzung des Telefons überhaupt erst ermöglicht. Die Anwendung "TapTapSee", die Gegenstände auf Handyfotos erkennt und benennt. Oder die App "Blindsquare", die auf die Daten der Standort-App "Foursquare" zurückgreift und so all die Orte offenlegt, die der Handybesitzer beim Laufen durch die Straßen passiert: Cafés, Geschäfte, Sehenswürdigkeiten. Doch "Be my eyes" ist anders, da hier ausnahmsweise keine Software hilft. Sondern Menschen.
Die App hilft, wenn gerade kein Bekannter in der Nähe ist
Apps wie diese könnten in Zukunft immer bedeutender werden, schließlich wird die Zahl der Menschen mit eingeschränkter Sehkraft zunehmen. Zwar erfasst das Statistische Bundesamt in Deutschland nicht, wer blind oder sehbehindert ist. Schätzungen des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV) zufolge sind es in etwa 1,2 Millionen Menschen - doch in anderen europäischen Ländern wie Dänemark oder Italien, die solche Statistiken führen, ist die Zahl der Betroffenen allein in den Jahren zwischen 1990 und 2002 um 80 Prozent nach oben gegangen. Eine Entwicklung, die der DBSV auch für die Bundesrepublik annimmt. Denn das Durchschnittsalter der Deutschen steigt ständig. Immer mehr werden auf die Hilfe Sehender angewiesen sein.
Meist dauert es nur ein paar Minuten, bis das Problem dank des Helfers bei "Be my eyes" gelöst ist. Wenn sowieso jemand Bekanntes in der Nähe ist oder zumindest Zeit für einen Videoanruf hat, ist die App überflüssig, das ist klar. Aber wenn dem nicht so ist, "dann ist die App schneller und praktischer als zum Beispiel erst ein Bild via Whatsapp zu versenden", sagt Schöpplein. "Wirklich schneller als Whatsapp?", fragen viele. Meist sind das Sehende, die diese Frage aus ihrer Perspektive heraus stellen.
Denn die anderen wissen nur zu gut, wie schwer es sein kann, ein scharfes Bild aufzunehmen, auf dem der Schriftzug einer Verpackung auch zu lesen ist. "Das macht das Ganze oft nervig und langwierig", sagt Schöpplein. Mehrmals die Woche nutzt er momentan die App, in Deutschland ist er damit einer von mehr als 13 000.
"Weltweit sind es fast zwanzigmal so viele, etwa 250 000", erzählt der Gründer Hans Jørgen Viberg im Videogespräch. Auch wenn das erst einmal nicht viel für eine App ist, für Viberg ist es das schon. Mit runder Brille und gestreiftem Pullover sitzt der Däne an seinem Rechner in Kopenhagen, die App ist sein Hobby, eigentlich ist der 50-Jährige von Beruf Schreiner - er hatte nie geplant, dass das Projekt so viel Aufmerksamkeit erfahren würde.
Manchmal kann Viberg noch immer nicht so richtig glauben, was in den vergangenen Monaten passiert ist. Schließlich bringe die App den Helfern keinen direkten Nutzen, schon gar keinen finanziellen Gewinn, sondern ziele nur auf Altruismus ab. Niemand verdiene Geld daran, weder Anwender noch Macher. "Be my eyes" ist eine Non-Profit-Organisation - zumindest noch, in Zukunft soll die App vielleicht einen kleinen Beitrag kosten, damit sie auch ohne Spenden bestehen kann. Viberg selbst sieht nur eingeschränkt und kennt viele Menschen in der gleichen Situation, umgesetzt hat er seine Idee mit einem Team aus Freiwilligen. Lange gibt es die Anwendung noch nicht, erst seit Anfang dieses Jahres ist sie im iTunes-Appstore verfügbar, in mehr als 30 Sprachen.
Als der deutsche Unternehmer Joachim Frank das mitbekam, zuckte er. Denn er hatte schon lange vorher genau die gleiche Idee, es aber nie geschafft, sie in eine App umzusetzen: Der 67-Jährige hatte bereits Anfang der 2000er-Jahre ein Windows-Programm namens "KlickBlick" auf den Markt gebracht, dass "Frager" und "Blicker" zusammenbringen sollte - das Konzept war im Großen und Ganzen das gleiche wie heute das von "Be my eyes". Allerdings ohne App, schließlich war das iPhone damals noch nicht einmal entwickelt - eine Webcam und ein Scanner dienten zur Verständigung.
Auf einen Blinden in Deutschland kommen 14 registrierte Helfer
Tablettenschachteln etwa wurden eingescannt, der Sehende las anschließend die Aufschrift vor. Den Scanner brauchte man, weil Gespräche über die Computerkamera zwar funktionierten, das Bild aus den kleinen Kameras aber eine sehr viel schlechtere Auflösung hatte als heutige Smartphone-Kameras. Die Aufschrift auf einer Pillenschachtel hätte man via Webcam nur sehr schwer entziffern können. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte die Idee beim Wettbewerb für soziale Ideen noch im Kanzleramt prämiert, das Programm wurde irgendwann jedoch wieder eingestellt, hatte es doch einen entscheidenden Nachteil: Es lief allein am Computerbildschirm, man konnte also beim Einkaufen oder beim Warten auf den Bus nicht schnell einmal nachfragen.
Außerdem gab es damals sehr viel mehr Helfer als Blinde und Sehbehinderte, die tatsächlich nach dieser Hilfe verlangten. "Für zehn Frager gab es etwa 300 Blicker", sagt Frank. Viele, die in dem Programm angemeldet waren, hätten vergeblich gewartet, dass sie endlich jemand anruft und sie um Hilfe bittet. Ein Problem, das Viberg heute noch immer kennt. Auch bei seiner App sind - egal in welchem Land - viel mehr Helfer registriert als Blinde. In Deutschland liegt das Verhältnis in etwa bei 14 zu eins. Warum das so ist? Viberg überlegt. Vielleicht, weil sich viele bereits ihre eigenen Strategien zurechtgelegt haben, um im Alltag zurechtzukommen - auch ohne eine App.
Im privaten Raum ist die App vielen zu unsicher
Vielleicht aber auch, weil nicht jeder Fremde in seinen Alltag, in sein Wohnzimmer oder seine Küche blicken lassen möchte. Genau das hält auch Peter Brass zurück: "Ich nutze die App nie in der eigenen Wohnung, man weiß schließlich nicht, wer da zuguckt", sagt der 60-Jährige aus dem Präsidium des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes. Um sich die Umgebung beschreiben zu lassen oder die richtige Shampooflasche im Hotel zu wählen, sei die App sinnvoll. Im privaten Raum jedoch sei sie ihm zu unsicher. Wer schlechte Erfahrungen macht, kann den betreffenden Nutzer beim Team der App melden, das schließt ihn dann von der Gemeinschaft aus - aber dann sei es ja bereits zu spät.
Die Zweifel von Brass zeigen: Die Digitalisierung bringt zwar große Möglichkeiten mit sich, um Blinden den Alltag zu erleichtern. Manchmal sind es nur Kleinigkeiten, die enorme Veränderungen erreichen könnten. "Städte zum Beispiel haben sicher die Daten, an welchen Stellen Ampeln stehen, sie veröffentlichen sie nur nicht. Für mich aber wären diese Informationen in einer App sehr wertvoll", sagt Schöpplein. Doch gerade wenn wie bei "Be my eyes" andere Menschen involviert sind, braucht es eben mehr als eine klug durchdachte App: Es braucht auch Vertrauen. Und das ist nicht programmierbar.