Sie haben keine Anführer und keine festgelegten Ziele; nur das Gefühl, in der Mehrheit zu sein. "Wir sind die 99 Prozent", skandieren die jungen Amerikaner, die seit zwei Wochen unter dem Motto "Occupy Wall Street" (zu Deutsch: Besetzt die Wall Street) in New York auf die Straße gehen. Ihr Protest ist chaotisch und viele ihrer Botschaften sind wirr. Dennoch wäre es falsch, die Demonstranten als Spinner abzutun. Sie richten den Blick auf die tiefe Spaltung Amerikas. Allein dafür gebührt ihnen Respekt.
"Wir sind die 99 Prozent": Damit meinen die Wall-Street-Besetzer jene, die ihre Hypotheken nicht bezahlen können. Jene, die um ihren Job fürchten. Und jene, die sich in Schulden stürzen müssen, nur um einen Studienabschluss zu bekommen. Das verbliebene eine Prozent kennt diese Sorgen nicht. 40 Prozent des Volksvermögens entfallen auf die dünne Schicht der Superreichen, die Kluft zum Rest des Landes war seit den Tagen der Eisenbahnbarone nicht mehr so groß.
Mehr und mehr entwickelt sich dieses Ungleichgewicht zu einer schweren Belastung für die amerikanische Demokratie. Die Wall Street ist der Nährboden der Oberschicht. Dort streichen auch mediokre Banker Millionenboni ein, gescheiterte Chefs werden mit goldenen Handschlägen verabschiedet, einzelne Hedgefondsmanager verdienen mehr als mancher Industriekonzern, und wenn die Spekulationsgeschäfte nicht aufgehen, springt der Steuerzahler ein.
Schon vor der Finanzkrise charakterisierten die Citigroup-Analysten Ajay Kapur, Niall Macleod und Narendra Singh die US-Wirtschaft als "Plutonomie". Das ökonomische Wachstum werde von der Oberschicht erwirtschaftet und konsumiert; für den Rest bleibt nicht viel übrig.
Seit der Krise haben sich die Gegensätze noch weiter verschärft. Die Kapitalmärkte haben sich erholt, trotz der jüngsten Turbulenzen; aber die Lage der meisten Amerikaner hat sich verschlechtert. Die Immobilienpreise finden keinen Halt, und die Arbeitslosenquote stagniert auf Rezessionsniveau. Die Mittelschicht rutscht ab, immer schneller, immer tiefer.
Schon in den 80er Jahren hat dieser Erosionsprozess begonnen, als die Fabriken im mittleren Westen ihre Tore zusperrten. Doch noch nie klang das amerikanische Versprechen, aus eigener Kraft den Sprung nach oben schaffen zu können, so hohl wie heute. Aufstiegschancen haben nur noch Absolventen von Eliteuniversitäten, die aber nur Hochtalentierten offen stehen - und den ohnehin bereits Vermögenden. Damit geht der Kitt verloren, der die US-Gesellschaft zusammenhält.
Proteste links wie rechts
Von alldem profitiert die Wall Street. Denn die wachsende soziale Spaltung steigert die Nachfrage an Krediten. Wie sonst sind das Haus, das Auto und die Ausbildung der Kinder noch zu bezahlen? Tiefes Unbehagen breitet sich aus. Immer mehr Amerikaner beschleicht das Gefühl, ihr Land werde nicht mehr zum Wohle der Mehrheit, sondern im Interesse einer kleinen Elite regiert.
Das schürt den Protest, nicht nur auf der linken Seite des politischen Spektrums. Auch die erzkonservative Tea-Party-Bewegung ist eine Reaktion auf den Verlust der ökonomischen Sicherheit; nur gibt sie die falschen Antworten. Die Tea Party hat sich, ganz im Sinne der Großindustriellen, die den Aktivisten organisatorischen und finanziellen Rückhalt geben, einer Politik der Deregulierung verschrieben. Das ist das Rezept, das den Verfall der Mittelschicht noch beschleunigen würde.
Die Wall-Street-Demonstranten stellen sich dem entgegen. Sie ziehen für ein gerechteres Amerika auf die Straße, auch wenn sie nicht genau wissen, wie sie das erreichen wollen. Einige fordern Steuererhöhungen, andere eine Zerschlagung der Finanzkonzerne. Helfen würde beides. Doch was Amerika am dringendsten braucht, sind Bildungsreformen. Wenn schon die Vermögen ungleich verteilt sind, müssen wenigstens die Aufstiegschancen gewahrt bleiben.