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Anthony Atkinson:"Firmen werden profitabler, wenn sie Mitarbeitern mehr zahlen"

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Erbschaft und Jobgarantie für jeden: Ein Gespräch mit dem Ökonom über konkrete Vorschläge, wie man die wachsende Ungleichheit aufhalten könnte.

Interview von Alexander Hagelüken und Jan Willmroth

Sein Werdegang begann einst als Krankenpfleger in Hamburg. Heute ist Anthony Atkinson, der in Oxford, am MIT in Cambridge bei Boston und an der London School of Economics lehrte, einer der gefragtesten Spezialisten für soziale Ungleichheit. Nachdem er sich fast ein halbes Jahrhundert mit Armut und Verteilung beschäftigt hat, legt der 71-jährige Ökonom jetzt eine Anleitung vor, wie die Politik auf die Spaltung der Gesellschaft reagieren kann.

SZ: In Ihrem neuen Buch "Ungleichheit" ist zu lesen, dass Sie schon vor zwei Jahrzehnten eine Rede darüber hielten, wie sich die Frage der Einkommensverteilung aus dem Abseits holen lässt. Steht sie inzwischen im Zentrum der Debatte?

Anthony Atkinson: Ich glaube nicht. Es ist nicht zu sehen, dass sich Ökonomen dafür in einem umfassenden Sinn interessieren.

Die Gesellschaft diskutiert viel über Ungleichheit, aber die Ökonomen nicht?

Die Ökonomie ist heute von Modellen über das Verhalten von Individuen und Firmen dominiert. Das Konzept, wonach alle Menschen identische rationale Subjekte sind, verhindert doch, dass Machtungleichgewichte beim Verhandeln des Lohns oder die schlechteren Startchancen mancher Menschen berücksichtigt werden. Die Ökonomen sind Gefangene ihrer Modelle geworden.

Aber der Franzose Thomas Piketty hat für seine umstrittenen Thesen zur Ungleichheit doch jede Menge Aufmerksamkeit bekommen. Gelten Sie zu Recht als einer seiner Lehrer?

Ich kenne ihn lange. Ich traf ihn schon, als er anfing. Wir haben zwei Bücher zusammen geschrieben und mehrere Papiere.

Überraschte Sie der Erfolg seines Bestsellers "Das Kapital im 21. Jahrhundert"?

Ja! Ich glaube, der Erfolg hat mit der Sorge vieler Menschen über die zunehmende Ungleichheit zu tun. Die Frage ist, wie viele das Buch zu Ende gelesen haben . . . ( lacht)

Was sind die wichtigsten Gründe für die Zunahme der Ungleichheit in westlichen Ländern?

Die gängigen Erklärungen sind der technische Fortschritt und die Globalisierung. Ein wichtiger Einfluss ist auch, wie sich Manager und andere an der Spitze hohe Gehälter sichern. Außerdem sind die Kapitaleinkünfte wichtiger geworden. Menschen mit Kapitaleinkommen profitieren stark, nicht zuletzt durch den Aufstieg der Finanzindustrie. Auf der anderen Seite verschärft die Politik die Ungleichheit, weil sie den Wohlfahrtsstaat und die Besteuerung der Besserverdiener eingeschränkt hat.

Viele Ökonomen und Politiker folgten mit solchen Maßnahmen der Logik, wonach eine Marktwirtschaft einer gewissen Ungleichheit bedarf, um zu boomen.

Deutschland hat von 1950 bis etwa 1980 erlebt, dass Armut und Ungleichheit abnahmen. In dieser langen Zeit ging es der Wirtschaft sehr gut. Wachstum und mehr Gleichheit gehen also durchaus zusammen.

Denken Sie, dass die wachsende Ungleichheit dazu beiträgt, dass die Industriestaaten schon länger kaum wachsen ?

Das ist eine gute Frage. Es mangelt an Diskussionen darüber. Joseph Stiglitz betont, dass die Produktivität auch davon abhängt, wie viel Arbeitnehmer verdienen. Britische Firmen beispielsweise haben die Löhne reduziert und die Arbeitsbedingungen verschlechtert, das verschlechtert die Produktivität. Du kriegst, was du zahlst.

Sie fordern eine nationale Lo hnpolitik: mit einem Mindestlohn und einer Bezahlung der meisten Arbeitnehmer deutlich darüber . Wie soll das funktionieren, die Unternehmen stehen doch im harten Wettbewerb?

Aber wer sagt denn, dass die Unternehmen unter den aktuellen Bedingungen am produktivsten sind? Firmen werden profitabler, wenn sie Mitarbeitern mehr zahlen. Die Politik verlässt sich zu sehr auf Geld- und Fiskalpolitik. Sie hat die Lohnpolitik aufgegeben, die es in den Sechzigerjahren gab. Der Einfluss der Gewerkschaften ging stark zurück. Die Regierungen sollten die Lohnpolitik wieder aufnehmen, so können sie die Ungleichheit verändern. Warum können nicht alle Einkommen steigen, wenn die Gehälter an der Spitze so stark steigen?

Sie fordern sogar, der Staat sollte Arbeitslosen einen öffentlichen Arbeitsplatz zum Mindestlohn garantieren. Klingt wie ineffizienter Sozialismus.

Der US-Kongress hat diesen Vorschlag in den Siebzigerjahren ratifiziert. Sozialistisch kann er also nicht sein. In den Niederlanden hat das Instrument Tradition. Im Bereich Soziales, Gesundheit, Betreuung von alten Menschen und Kindern gäbe es viel Beschäftigung. Und solche Beschäftigung ist besser als ein bedingungsloses Grundeinkommen. Wenn wir die Banken retten können, warum können wir dann nicht die Menschen retten?

Welchen Schaden richtet die Zunahme der Ungleichheit vor allem an?

Mich besorgt die Chancenungleichheit sehr, dass Arbeiterkinder selten auf höhere Schulen gehen. Jeder dritte Besucher von Suppenküchen ist ein Kind. Da sieht man, wie groß die Ungleichheit geworden ist. So entsteht eine Gesellschaft mit weniger Zusammengehörigkeit. Die Folgen sah man zum Beispiel bei der Entscheidung für den Brexit. Und das sehe nicht nur ich so. Premierministerin Theresa May hat es in einer ihrer ersten Reden erwähnt.

Wie hängt die Ungleichheit mit dem Brexit zusammen?

Regionen wie Cornwall und die Industriegebiete, die zuletzt zu den Verlierern zählten, waren für den Brexit. Das ist ein internationales Phänomen. Unsichere Jobs und Arbeitslosigkeit führen zu Frust und Wut. Das begünstigt den Aufstieg populistischer Parteien vom Front National oder der AfD bis zu Podemos und Syriza.

Sie schreiben: "Eine Gesellschaft, in der niemand private Abstecher ins All, dafür aber jeder Essen in normalen Geschäften bezahlen kann, hätte mehr Zusammenhalt." Viele Ökonomen halten solche Umverteilungsgedanken für absurd.

Das sagt viel über Ökonomen aus. Noch Keynes bezeichnete die Ökonomik vor vielen Jahren als moralische Wissenschaft, die sich mit ethischen Fragen beschäftigen sollte. Als ich Student war, waren Verteilungsfragen ein wichtiger Teil der Lehrbücher. Ich schrieb mein erstes Buch über Armut in Großbritannien im Jahr 1969. Das war der Grund, warum ich Ökonom geworden bin.

Sie machen noch einen Vorschlag, der wohl nicht allen gefällt: Jeder sollte ein Mindesterbe erhalten, finanziert durch Erbschaft steuern für Vermögende.

Die Erbschaftsteuer ist unpopulär, zum Teil, weil die Leute nicht sehen, wohin das Geld fließt. Thomas Paine, einer der Gründerväter der USA, sagte: Von Erbschaften sollte jeder profitieren. Es ist Anlass zur Sorge, dass heute Absolventen die Uni mit 50 000 Pfund Schulden für Studienkredite verlassen.

Das ist ja verständlich. Aber Sie schlagen noch viel mehr vor: Niedrigere Steuern für Geringverdiener, mehr Kindergeld, höhere Sozialleistungen. Ist das überhaupt finanzierbar?

Nehmen Sie das Sozialsystem: Wir subventionieren oft schlecht bezahlte Arbeit, was ein Fehler ist. Sozialleistungen sollten für die reserviert sein, die überhaupt keinen Job haben. Wenn wir etwa durch Lohnpolitik für besser bezahlte Arbeit sorgen, brauchen Arbeitnehmer keine Sozialleistungen mehr. Außerdem finde ich es skandalös, dass ein Universitätsprofessor wie ich nur 45 Prozent Steuern zahlt.

Wie viele Firmen und Vermögende wandern ab, wenn der Spitzensteuersatz auf 65 Prozent steigt, wie Sie fordern?

Wenige. Der Chef einer großen Firma sagte mir mal, er arbeite, egal, ob ihm das Unternehmen nun doppelt so viel zahle oder halb so viel.

Manche Deutsche haben schon wegen niedrigerer Sätze ihr Geld im Ausland gebunkert.

Mit Informationsaustausch zwischen den Staaten stoppen Sie das.

Greifen Politiker Ihre Vorschläge auf?

Die britische Labour Party greift die Idee eines Sozial- und Wirtschaftsrats auf. Die australische Labor Party macht sich dafür stark, in der Wettbewerbspolitik Verteilungseffekte zu berücksichtigen. Sie in Deutschland sollten übrigens Ihre Gesetze ändern, damit eine Fusion von Tengelmann mit Edeka möglich ist, weil sie die meisten Jobs rettet. Ich bin nicht bereit, die steigende Ungleichheit als unvermeidlich hinzunehmen: Sie ist das Ergebnis von Kräften, die wir beeinflussen können.

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Quelle:
SZ vom 27.08.2016
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