Süddeutsche Zeitung

Anime-Zeichentrickkunst:Freunde für alle

Sie wirken universell wie Emojis: Die Geschöpfe der japanischen Anime-Kunst werden erschaffen, damit die Welt sie mag. Bei Netflix treten sie zum globalen Siegeszug an.

Von Philipp Bovermann, Thomas Hahn und Jürgen Schmieder

In Oizumi säumen seltsame Gestalten die Promenade zwischen Kaufhaus und Bahnhof - in Bronze, lebensgroß. Es sind Denkmäler der japanischen Zeichentrickkunst Anime. Sie zeigen die berühmtesten Töchter und Söhne des Stadtteils, genauer gesagt zeigen sie Figuren aus den Studios örtlicher Anime-Firmen wie Toei Animation. Oizumi liegt im Westen des gewaltigen Häuserteppichs von Tokio, es ist dicht bebaut, trotzdem verschlafen. Und die starren Fantasiehelden mit ihren futuristischen Namen wie Astro Boy oder Maetel scheinen ins Bild eines Ortes zu passen, der seiner Beschaulichkeit mal etwas Schräges abtrotzen will.

Aber das täuscht. Das Statuen-Kabinett spiegelt nicht schrullige Heimatkultur, sondern einen Zeitgeist, mit dem Japan gerade die Welt erobert. Die Zeichentrickkunst ist ein Exportschlager Nippons, und ihr Siegeszug nimmt Fahrt auf, wenn man Fumitaka Someya aus Toeis Abteilung für Firmenstrategie glauben darf. Someya sagt: "Anime wird immer globaler."

Japans Anime-Zeichner beeinflussen schon lange die Sehgewohnheiten im Ausland. Gerade in Deutschland sind viele mit ihren bunten Werken groß geworden, weil sie es waren, die in den Siebzigerjahren Bücher wie "Biene Maja" des Deutschen Waldemar Bonsels oder "Heidis Lehr- und Wanderjahre" der Schweizerin Johanna Spyri in Kinderzeichentrickfilme umsetzten. Seither ist viel passiert. Der Anime-Kosmos ist längst bevölkert von einem Heer aus Heldinnen und Helden, die mal laut, mal leise, mal grell, mal blass, mal freizügig, mal züchtig sind. Dieses Heer ist so vielfältig, dass man es kaum mehr überblicken kann. Es unterhält Menschen aller Generationen, Comic-Liebhaber, Wirklichkeitsflüchtlinge, Computerspieler.

Und als nächste Stufe der Verbreitung gilt der Umstand, dass mittlerweile ein wahrer Global Player des Unterhaltungsgewerbes mit besonderer Entschlossenheit nach der kreativen Kraft der japanischen Anime-Fabriken greift: der amerikanische Streaming-Anbieter Netflix nämlich, was mancher Liebhaber für Verrat am urjapanischen Zeichentrickwesen hält - viele andere aber als einen erfrischenden Einfluss feiern, den der japanische Anime-Betrieb finanziell und inhaltlich durchaus gebrauchen könne. Anime wird zur Weltmarke. Das schrankenlose Internet macht es möglich - Netflix befeuert den Trend. Auch als Partner von Toei Animation "in dem neuen Markt Streaming", wie Fumitaka Someya bestätigt.

Allein mit Merchandising setzen Anime-Unternehmen aus Japan vier Milliarden Euro um

Um zu verstehen, warum Netflix auf Anime-Filme aus Japan setzt, muss man sich das fantastische Zweituniversum anschauen, das sich um sie herum immer weiter ausbreitet. Sogar in mittelgroßen, wenig avantgardeverdächtigen Städten finden inzwischen Anime-Conventions statt, also Fanmessen. Etwa im "Bürgerhaus Zähringen" im Norden Freiburgs, in dem die Feuerwehr der Stadt im Sommer das Jubiläum ihres 120-jährigen Bestehens gefeiert hat.

Vor dem Eingang stehen mit japanischen Manga-Cartoons bedruckte Sportwagen. Durch die Halle wuseln Teenager und junge Erwachsene in den Verkleidungen ihrer Lieblingsfiguren - und weisen einen gleich zurecht, wenn man das, was sie am Leib tragen, als "Verkleidung" bezeichnet. "Cosplay" nennen sie das, was sie tun, ein Wort, das sich aus "Costume" und "Play" zusammensetzt, Kostüm und Spiel. Mädchen in japanischen Schuluniformen sind zu sehen, Krieger, Fabelwesen. Viele der Outfits sind selbstgemacht.

"Ich kann zwar nicht nähen, aber ich liebe es, Waffen zu craften", sagt eine klein gewachsene Geisha. Ihre Freundin ist in die Rolle eines japanischen Dienstmädchens geschlüpft, aber eigentlich ist ihre Figur in der Serie ein Drache, der sich als Dienstmädchen verkleidet. Cosplay im Cosplay also. Manche spielen Figuren des anderen Geschlechts, was sich dann "Crossplay" nennt und von niemandem komisch gefunden wird. Man ist unheimlich tolerant und nett. Keiner wird ausgelacht. Alles fühlt sich irgendwie virtuell an, auf eine angenehm schwebende Art unecht und dabei zuckersüß. Junge Menschen verbeugen sich höflich voreinander. Andere tanzen "Macarena".

Drinnen beim Waffencheck, bei dem die Cosplayer ihre Waffen auf Unechtheit prüfen lassen müssen, liegt ein 28-jähriger Schwertkrieger auf einem gewaltigen Plüsch-Pokémon. Eine Besucherin hat es als Mini-Liegewiese selbst gebastelt und mitgebracht. Der Schwertkrieger berichtet stolz, er sei "der absolute Obernerd", und dass er noch im Keller seiner Eltern wohne und dort ein Waifu-Kissen habe. Ein was? Waifus seien Animefiguren, in die man verliebt ist, mit denen man eine Beziehung führt wie mit einer Freundin, erklärt der 28-Jährige. Seine Schwester sitzt neben ihm und verdreht unter der Kapuze ihres Assassinen-Capes die Augen.

Im Keller läuft "Seven Deadly Sins: Prisoners of the Sky", eine Filmauskopplung der Serie, mit der deutsche Netflix-Zuschauer 2018 durchschnittlich die meiste Zeit am Stück verbracht haben - mehr als mit Spielfilmserien wie "House of Cards" oder "Big Bang Theory". Die Serie zeigt eine harmlose Anime-Märchenwelt. Krieger und Dämonen bekämpfen sich. Die Frauen haben perfekte Brüste. Es gibt ein sprechendes Schwein und fliegende Himmelsfische. Ständig rummst und kaboomt es, magische Explosionen erhellen die Leinwand, dazu spielt treibende Arcade-Musik.

Plastikfiguren, Püppchen, Cosplay-Accessoires aller Art gruppieren sich in vier Merchandising-Bereichen um den Hauptsaal, in dem gerade eine japanische Popsängerin im rosa Fantasiekleid auftritt. Wäre Anime ein Planet, würde ihn ein Ring aus Plastiknippes umgeben. Das Drachenhausmädchen schätzt, dass in ihrer Wohnung um die zehntausend Euro an Fanartikeln liegen dürften. Ein Schweizer sagt, er fahre nie mit dem Zug, sondern komme immer mit dem SUV zu Conventions. "Mehr Stauraum." Ein Riesengeschäft: Laut dem Industrieverband AJA haben japanische Anime-Unternehmen 2017 rund 523 Milliarden Yen, etwa 4,3 Milliarden Euro, allein durch Merchandising eingenommen.

Außerdem sind Figuren erfolgreicher Anime-Serien Protagonisten in Smartphone- und anderen Computerspielen. "Solche Sachen verbreiten sich bombastisch und global", sagt Fumitaka Someya in Tokio. Toei Animation ist ein vielfacher Lizenzinhaber solcher Figuren und sitzt dadurch an einer sprudelnden Geldquelle. Filme und Serien selbst tragen relativ wenig zum Gewinn bei, auch wenn sie sich gut verkaufen. Someya sagt: "Unsere Umsatzrendite beträgt fast 30 Prozent. Anscheinend wegen der Zweitverwertung."

Die Zeichner sind begehrt, ihre Gehälter klaffen aber deutlich auseinander

Die Anime-Figuren sind so angelegt, dass Menschen eine Beziehung zu ihnen aufbauen, sich im Idealfall sogar in sie verlieben - und dann diese Beziehung mit der Kreditkarte aufrechterhalten, indem sie alles kaufen, was mit ihnen zu tun hat. Das funktioniert über Kulturgrenzen hinweg. Die schematisch gezeichneten Gesichter mit den großen Augen sind fast so universell wie Emojis. Zu viel Individualität bei den Zeichnungen der Figuren würde das Einfühlen erschweren, man könnte nicht mehr so gut seine Fantasie auf sie projizieren. Und die Schauplätze der Geschichten sind teilweise so abgedreht und unbestimmt, dass sie auf der ganzen Welt spielen könnten. Anime wird zum globalen Zufluchtsort. Hier kann man mal Pause machen von den echten, nicht so fantastischen Lebenswelten in Tokio, Los Angeles oder eben Freiburg-Zähringen.

Für Netflix ist das Geschäftspotenzial offensichtlich. Anime-Filme lassen sich außerdem leichter synchronisieren als Dramen mit echten Schauspielern und echten Lippen. Und man kann sie billig einkaufen. Man muss nur den Katalog aufschlagen und "den, den, den und den" sagen, wie ein deutscher Lizenzhändler berichtet - oder eben eigene Animes in Auftrag geben.

In Los Angeles, auf dem neuen Studiogelände von Netflix am Sunset Boulevard, grüßt Taito Okiura so freundlich, dass er fast schüchtern wirkt. Seit knapp zwei Jahren verantwortet der Japaner den Bereich Anime bei Netflix. Bereits im Frühjahr hat er 30 Projekte angekündigt und damit eine der Strategien vorgestellt, mit denen Netflix im erbitterten Kampf ums Weltpublikum bestehen will. Netflix hat die Unterhaltungsbranche dramatisch verändert mit seinem revolutionären Konzept, Inhalte zum Wann-immer-wo-immer-Angucken bereitzustellen. Das Unternehmen hat dabei nicht nur fremden Stoff zu Geld gemacht. Es hat auch mit eigenen Inhalten überzeugt: Die Politik-Serie "House of Cards" zum Beispiel oder der Alfonso-Cuarón-Film "Roma" hat viele Preise gewonnen.

Aber Netflix braucht weitere Alleinstellungsmerkmale, um sich von den immer aggressiveren Konkurrenten abzuheben, zu denen nicht nur traditionelle Platzhirsche wie Disney, der Pay-TV-Kanal HBO oder der Konzern NBC Universal gehören, sondern auch Tech-Firmen mit prall gefüllter Kriegskasse wie Apple, Facebook oder Amazon. Im zweiten Quartal ist die Zahl der Netflix-Abonnenten weltweit nur um 2,7 Millionen gewachsen, in den USA sind es sogar 126 000 weniger geworden. Das sind schlimme Signale in einer Branche, die auf immenses Wachstum ausgelegt ist. Netflix-Chef Reed Hastings will die Zahl der US-Abonnenten von 60 auf 90 Millionen steigern und sagt: "Es gibt weltweit - den schwierigen chinesischen Mark ausgenommen - 700 Millionen Haushalte, die für TV zahlen. Haben wir genug Inhalte in jedem dieser Länder?" Taito Okiura soll mit seinen Anime-Instinkten dazu beitragen, dass Hastings diese Frage mit einem klaren Ja beantworten kann.

Produzent Okiura ist ein Sohn der japanischen Zeichentrickwelt. Vor zwölf Jahren wurde er mit der Serie "Afro Samurai" berühmt. Danach gründete er das japanische Studio David Productions, das er auch nach dem Verkauf an Fuji TV vor fünf Jahren leitete. Die Zeiten waren damals nicht rosig. Die Internet-Piraterie ruinierte den Anime-Markt, mit überarbeiteten Zeichnern kämpften viele Studios um Geld und Inspiration. "Wir hatten damals Probleme zu überleben", sagt Okiura, "es gab keine Möglichkeit zum Geldverdienen."

Wie es der japanischen Anime-Industrie heute genau geht, ist nicht so einfach zu sagen, dazu ist sie zu vielfältig. Außerdem hat sie in diesem Jahr eine sehr reale Tragödie erlebt: Im Juli drang ein Amokläufer in das Studiogebäude der angesehenen Produktionsfirma Kyoto Animation in Kyoto ein. Er legte ein Feuer. 36 Menschen kamen ums Leben. Fans auf der ganzen Welt waren bestürzt, andere Firmen boten Hilfe beim Wiederaufbau an. Die Trauer war echt und ehrlich.

Wenn man nach dem Schock dann wieder nachdenken kann über die Frage nach dem Befinden der Branche, fällt durchaus auch mal das Wort Boom. Laut AJA waren Japans Anime-Unternehmen 2017 insgesamt 2,153 Billionen Yen (18 Milliarden Euro) wert - Rekord. In Tokio ist Anime allgegenwärtig, in der Werbung, auf Plakatwänden, in den Kinos, in den Handys vieler Pendler. Ständig schaut man in die glasigen Augen gezeichneter Charaktere. Und bei Toei Animation verströmt Stratege Someya die Aura einer Großverdienerfirma.

Sein Arbeitgeber gilt aber auch als das älteste Anime-Unternehmen seiner Art in Japan und ist ein Riese. Etwa 500 Menschen arbeiten in den Studios von Oizumi. Laut Someya arbeiten die Zeichner von Toei Animation "in einem gesegneten Arbeitsumfeld". In kleineren Betrieben ist das wohl noch anders. Im vergangenen Februar hat der Anime-Künstler-Verband Japan (Janica) seine neueste Studie zur Szene herausgebracht. Ergebnis: Gerade junge Zeichner haben noch wenig vom Aufschwung.

"Die Zahl der Titel und der Studios wächst, viele Produktionsfirmen stellen fest, dass sie ihre Projekte nicht fertigkriegen könnten, wenn sie Zeichner nicht an sich binden. Deshalb bekommen diese nun längerfristige Angebote und entsprechend mehr Geld", hat der Janica-Vorsitzende und Anime-Regisseur Yasuhiro Irie der Japan Times gesagt. Aber: "Es gibt auch noch Zeichner, die auf Projektbasis bezahlt werden, und die Einkommensunterschiede zwischen diesen beiden Gruppen könnten wachsen." Laut Janica verdienen 20- bis 24-jährige Zeichner pro Monat im Schnitt 128 800 Yen, das sind keine 1100 Euro. Der preisgekrönte Zeichner Keiichi Hara stellt fest, "dass es immer weniger junge Zeichner gibt". Sein Kollege Ayumu Watanabe sieht eine Spaltung der Szene: "Es gibt große Produktionen, die sich unglaublich viele Zeichner leisten können - und am anderen Ende der Skala künstlerischere Projekte, die sehr viel weniger Geld haben."

Ein Netflix-Manager vergleicht das Potenzial von Anime mit dem von Sushi-Restaurants

Wird die Kluft durch Netflix größer? Oder bringen die Amerikaner so viel Geld, dass auf Dauer alle profitieren? Taito Okiura in Los Angeles sagt: "Durch Netflix gibt es nun die Möglichkeit, dass sich diese Kunstform für einen internationalen Markt entwickelt." Okiura vergleicht die Lage mit einem amerikanischen Sushi-Restaurant. "Die unterscheiden sich auch von den traditionellen in Japan, es gibt immer eine Note des Landes, in dem sie angesiedelt sind. Ich liebe zum Beispiel die California Roll, die es in Japan gar nicht gibt." Es gibt nun also so etwas wie das Anime-Projekt "Gods and Heroes". Die Geschichte basiert auf der griechischen Mythologie, die Animation übernimmt ein Studio in Texas. Japanische Künstler sollen ihre Stärke einbringen, Figuren zu entwickeln. Die Zielgruppe seien junge Erwachsene, sagt Okiura und fügt dieses Mantra hinzu, das Netflix offenbar jedem Mitarbeiter einimpft: "Es wäre natürlich schön, wenn einige unserer Projekte für Preise nominiert würden, das große Ziel ist aber, möglichst viele Menschen zu begeistern."

Bei Toei in Tokio sagt Fumitaka Someya: "Wir haben Verträge mit mehreren Streaming-Anbietern, um die Globalisierung der Animation voranzutreiben." Für Netflix hat die Firma die Serie "Knights of the Zodiac: Saint Seiya" gefertigt, die seit Juli läuft, zudem hat Netflix ältere Toei-Serien erstanden. Doch unaufgeregt meldet der Industrieverband AJA, der Anteil der Netflix-Titel an den jährlichen Produktionen sei noch gering. Es sei "eine gute Nachricht für die Studios, dass Netflix ein potenzieller Geldgeber sein kann". Die Vermarkter der japanischen Zeichenkunst mögen das amerikanische Geld. Außerdem kann man das Netflix-Engagement so deuten: Die Welt braucht Japan. Und das hört man gern im Land der aufgehenden Sonne.

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Quelle:
SZ vom 16.11.2019
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