Süddeutsche Zeitung

Rente:Die Bundesregierung duckt sich feige weg

Die meisten jungen Menschen fürchten, später arm zu sein. Doch statt etwas zu tun, stößt die Politik sie vor den Kopf - weil sie Angst hat Beamte, Topverdiener oder Senioren zu belasten. Das muss aufhören.

Kommentar von Alexander Hagelüken

Was junge Menschen bewegt, spielt in der Politik zu selten eine Rolle. Was junge Menschen neben Themen wie Klimaschutz auch bewegt, haben sie jetzt in einer Umfrage ausgedrückt: 80 Prozent von ihnen haben Angst, im Alter zu wenig Rente zu bekommen und in die Armut abzurutschen. Deshalb hat der neue Wirtschaftsweise Martin Werding recht, wenn er gleich zum Amtsantritt eine Debatte über Reformen lostritt: Die Bundesregierung darf sich nicht länger vor dem Altersthema wegducken.

Sozialökonom Werding legt die Zukunft schonungslos offen. Zur Jahrtausendwende kamen auf jeden Senior fünf Bürger im Berufsalter, die seine Rente finanzieren konnten. Mitte der 2030er-Jahre werden es nur noch zwei Arbeitnehmer sein. Ohne Reformen müssten die Sozialbeiträge von 40 auf fast 50 Prozent des Bruttolohns steigen - plus Lohnsteuer. Das wäre gegenüber allen Beschäftigten grob unfair.

Warum dieses Zahlenreferat über die Alterung Deutschlands, das mancher vielleicht schon kennt? Weil die neue (ebenso wie die alte) Regierung so tut, als kenne sie die Zahlen eben nicht. Das ist grob unverantwortlich. Die Politiker laden die demografische Last auf den Schultern aller Bürger unter Mitte fünfzig ab, sodass mancher in die Knie gehen wird.

Politiker sollten sich der großen Fragen der Zeit annehmen

Der Neu-Weise Werding fordert eine breite Reform, die auch ein höheres Rentenalter umfasst. Dafür hat er die üblichen Wutreflexe geerntet. Doch anders als mancher Arbeitgeberfunktionär knallt Werding den Deutschen nicht hin, sie müssten bald bis 70 arbeiten - und auch noch jede Woche länger. Werding will das Rentenalter langsam mit der Lebenserwartung erhöhen, damit wäre es in 20 Jahren erst bei 68. Wer das gesundheitlich nicht schafft, soll mit weniger Rentenabschlägen in den Ruhestand können.

Moderat konzipiert, kann ein höheres Rentenalter Teil einer Reform sein. Weil aber auch das wieder nur von Jungen und Mittelalten und auch nur von Arbeitnehmern zu tragen wäre, braucht es eine wirklich breite Reform. Ja, Arbeitnehmer können etwas höhere Sozialbeiträge zahlen. Aber auch die Rentner sollten ihren Beitrag leisten: durch niedrigere Rentensteigerungen.

Außerdem rechtfertigt eine große Veränderung wie die Alterung mehr Steuermittel in die Sozialkasse. Dafür sollten die Profiteure der vergangenen Ungleichheitsjahrzehnte höher besteuert werden: Topverdiener, Firmenerben, Großaktionäre, Firmen, Besitzer von Teuerimmobilien.

Um den gesellschaftlichen Frieden zu wahren, darf die Reform keine Soloaktion sein. So muss die Überversorgung der Beamtenpensionäre reduziert werden. Und Beamte, Selbständige und Politiker sollten bald in die Rentenversicherung.

Eine solche Großreform fällt nur fair aus, wenn man wirklich alle Bestandteile umsetzt. Und weder Rentner noch Beamte oder Reiche privilegiert. Dafür schafft die Politik dann aber auch dauerhaft Sicherheit bei einer Frage, die jeden angeht. Niemand will zurück in jene weitaus längste Phase der Menschheitsgeschichte bis Mitte der 20. Jahrhunderts, als man in Angst leben musste, im Alter arm zu sein. Von Politikern darf man erwarten, dass sie sich der großen Fragen unserer Zeit annehmen, von Klimaschutz und Wohlstand über die Abwehr äußerer Feinde bis zu einem Alter ohne Finanzsorgen.

Für Letzteres braucht es mehr als klassische Rentenpolitik. Nämlich das Bemühen, jedem eine Berufsausbildung zu ermöglichen, damit er später genug Rente hat. Und das Vorgehen gegen die Minijob- und Teilzeitfallen, die gerade Frauen im Alter arm sein lassen.

Es braucht aber eben auch klassische Rentenpolitik, also jetzt schnell eine umfassende Reform mit allen Aspekten. Die neue Regierung drückt sich davor ebenso, wie die alte es tat. Es drängt sich der Verdacht auf, dass sie weder Beamte noch Topverdiener und schon gar nicht die zunehmende Wählerschar der Senioren belasten will.

Das aber ist nicht nur feige. Es ist auch ein Affront gegen jene 80 Prozent der 17- bis 27-Jährigen, die Angst haben, im Alter arm zu sein. Und gegen alle anderen Arbeitnehmer bis Mitte fünfzig, die darunter leiden, wenn die Regierung sich weiter wegduckt.

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