Süddeutsche Zeitung

Anfänge des Plastiks:Kunststoff aus dem Neandertal

Plastik klingt nach Moderne. Doch die Ursprünge der Kunststoffe liegen weit zurück. Und zur bahnbrechenden Erfindung brauchte es wohl einen Unfall.

Von Pia Ratzesberger

Wer den Erfinder des Plastiks sucht, wird ihn nicht finden - auf einen einzigen Forscher ist die Idee der Kunststoffe nicht zurückzuführen. Plastik, das ist das Produkt von Forschern, Chemikern und Unternehmern, die teils Jahrhunderte voneinander trennten. Manche experimentierten jahrelang, um Kunststoffe herzustellen. Anderen spielte der Zufall zu.

Die Ursprünge des Materials liegen in einer Zeit, die man mit dem heutigen Verständnis von Plastik kaum in Verbindung bringen würde: Schon die Neandertaler nutzten natürliche Kunststoffe. Sie gewannen durch das Erhitzen von Birkenrinde Pech und verwendeten die entstandene Masse als Klebstoff für Steinwerkzeuge. Mehr als 1500 Jahre vor Christus formten Völker in Lateinamerika dann aus Kautschuk und Pflanzensaft Bälle, die sie bei gemeinsamen Spielen einsetzten - durch den Saft klebte der Kautschuk nicht mehr und wurde elastisch.

Suche nach billigen Billardkugeln

Abseits dessen wurden die ersten großen Schritte jedoch im 19. Jahrhundert getan: Der Amerikaner Charles Goodyear war sich wohl kaum bewusst, dass er Geschichte schrieb, als er im Jahr 1839 Kautschuk etwas Schwefel beimischte. Manche behaupteten sogar, alles sei ein Unfall gewesen, Goodyear sei die Vulkanisation aus bloßem Ungeschick gelungen. Doch ob Zufall oder Taktik: Durch die entstandene chemische Reaktion schaffte es Goodyear, dass der Kautschuk formbar wurde. Er stellte so einen der ersten halbsynthetischen Kunststoffe her, den Gummi. Halbsynthetisch bedeutet, dass die natürlichen Polymere chemisch verändert werden.

Kunststoffe und Plastik werden heute gemeinhin synonym verwendet, auch wenn das in der Wissenschaft teilweise umstritten ist: "Der Begriff des Plastiks ist umgangssprachlich und im Vergleich mit dem Ausdruck der Kunststoffe stark eingeschränkt. Die meisten Leute meinen damit nur einfache, billige, massenhafte Dinge des täglichen Lebens", sagt Günter Lattermann, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Kunststoffgeschichte.

Kunststoffe lassen sich in drei Gruppen unterteilen: Thermoplaste (bei höheren Temperaturen erneut verformbar), Duromere (bei höheren Temperaturen nicht wieder verformbar) und Elastomere. Der Gummi zählt zu Letzteren, da er elastisch ist. "Seit Goodyear konnten zum Beispiel luftgefüllte Fahrradreifen aus vulkanisiertem Kautschuk oder Mundstücke aus Hartgummi für Musikinstrumente gefertigt werden", sagt Lattermann. Goodyear wird deshalb oft als einer der Urväter der Kunststoffe bezeichnet.

Noch im gleichen Jahrhundert machte allerdings ein zweiter Mann eine wichtige Entdeckung. Der Amerikaner John Wesley Hyatt versuchte, ein billigere Alternative zu den damals noch aus Elfenbein gefertigten Billardkugeln zu finden. Eine New Yorker Firma hatte einen entsprechenden Wettbewerb ausgelobt, mehrere Tausend Dollar sollte der Gewinner erhalten. Für den Unternehmer Hyatt ein Antrieb. Der erste Versuch, Kugeln aus Textil, Elfenbeinstaub und Schellack herzustellen, misslang.

Baekeland gelang, wonach viele strebten

Nach vielen weiteren Fehlschlägen entdeckte Hyatt jedoch, dass Zellulosenitrat und Kampfer ein brauchbares Material ergaben - gemeinsam mit seinem Bruder ließ er Zelluloid schließlich zum Patent anmelden. Zwar hatte vor ihm bereits der Engländer Alexander Parkes den gleichen Vorstoß gemacht, doch die Gebrüder Hyatt brachten es mit ihrer Erfindung auch tatsächlich zu Geld.

Ihre Kunststoffe waren aber noch immer halbsynthetisch, erst mit Leo Hendrik Baekeland änderte sich das. Der Belgier, der in die USA emigriert war, meldete Anfang des 20. Jahrhunderts ein Patent für das nach ihm benannte Bakelit an. Einen vollsynthetischen Kunststoff aus Phenol und Formaldehyd. Im Gegensatz zu manchen Vorläufern war Bakelit elektisch isolierend und relativ hitzebeständig, was für manche Industriezweige von großem Vorteil war: "Der Kunststoff wurde viel für Radiogehäuse, Steckdosen und Schalter verwendet", sagt Uta Scholten, Kuratorin des Deutschen Kunststoffmuseums.

Bakelit war der erste in großen Mengen produzierte Kunststoff - dem Chemiker Baekeland war damit gelungen, wonach viele vor ihm strebten, doch meist scheiterten. "Viele Patente werden zwar angemeldet, aber dann nie umgesetzt. Das war auch schon früher so", sagt Lattermann von der Gesellschaft für Kunststoffgeschichte. Baekeland konnte seine Erfindung dagegen tatsächlich in großem Stil in Produktion bringen.

Die Herstellung von Bakelit wird oft als Beginn der modernen Kunststoffindustrie gesehen. Nur etwa drei Jahre später, 1911, bekamen die Kunststoffe dann auch den Namen, den sie bis heute tragen: Der Chemiker Ernst Richard Escales gab in diesem Jahr zum ersten Mal die Fachzeitschrift "Kunststoffe" heraus. Das Heft gibt es bis heute - auch wenn die Stoffe, über die heute darin geschrieben wird, nun andere sind als zu Zeiten von Goodyear, Hyatt oder Baekeland.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2096041
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
Süddeutsche.de/ratz/hgn
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.