Andrea Nahles:"Ohne die Flüchtlingswelle hätten wir ein noch größeres Fachkräfteproblem"

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Andrea Nahles ist seit August 2022 Chefin der Bundesagentur für Arbeit. (Foto: Johannes Simon/Johannes Simon)

Als Arbeitsagentur-Chefin erlebt Andrea Nahles gerade, wie weit die politischen Diskussionen an der Realität in den Jobcentern vorbeigehen. Dort gibt es dringendere Probleme zu lösen als das Bürgergeld.

Von Christina Kunkel, Berlin

Es ist manchmal eine sehr dankbare Rolle, an der Seitenlinie zu stehen, zu kommentieren und zu bewerten, was die anderen gerade so machen. In diese Rolle könnte auch Andrea Nahles als Chefin der Bundesagentur für Arbeit problemlos schlüpfen. Sie könnte darüber urteilen, ob der Kompromiss der Bundesregierung zum Bürgergeld gut ist. Und es gibt wohl kaum jemanden, der in diesem Thema außerhalb des aktuellen Politbetriebs eine kompetentere Kommentatorin wäre als die ehemalige SPD-Vorsitzende. Gilt sie doch als Miterfinderin der Bürgergelds, das von Januar an Hartz IV ablösen wird und das nach zähem Ringen Anfang dieser Woche beschlossen wurde.

Doch Andrea Nahles stellt während des Wirtschaftsgipfels der Süddeutschen Zeitung in Berlin erst einmal klar: "Ich sehe mich nicht in einer Kommentatoren-Rolle." An einer Einigung beim Bürgergeld habe sie "nicht den geringsten Zweifel" gehabt. Dafür sei sie eben doch zu lange dabei gewesen im Politikbetrieb.

Aber ein wenig lässt Nahles dann doch durchblicken, dass sie viele Streitpunkte rund um das Bürgergeld für den Alltag in der Arbeitsagentur für weit weniger relevant hält als viele Politiker. Sanktionen? "Ich begrüße, dass es sie gibt, weil es wichtig ist, dass eine Verbindlichkeit da ist." Allerdings dürfe man auch nicht vergessen: Nur in drei Prozent aller Fälle würde überhaupt sanktioniert. Auch die Frage nach einem Schonvermögen und wie hoch dieses sein sollte, spiele bei den meisten Arbeitssuchenden keine Rolle, sagt Nahles.

Weniger Bürokratie, auch in der Sprache

Doch bei all den politischen Debatten, das hat Nahles als Arbeitsagentur-Chefin schnell lernen müssen, gilt in ihrer Behörde vor allem eins: "Nur weil sich ein Gesetz ändert, ändern sich die Leute nicht." Und für die Menschen - oder "Kunden", wie Nahles sie nennt -, die die 115 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Arbeitsagentur betreuen, sieht die ehemalige SPD-Vorsitzende durchaus Verbesserungen durch die neue Gesetzgebung.

Etwa den Wegfall des Vermittlungsvorrangs. Das bedeutet, dass dann nicht mehr jeder Arbeitslose unbedingt direkt in einen neuen Job vermittelt werden muss, sondern erst einmal weiterqualifiziert werden kann, wenn er dadurch Aussichten auf eine bessere Stelle hat. "Wir müssen in Grundkompetenzen investieren", sagt Nahles - und gibt zu, dass auch in ihrer Behörde noch einige Hausaufgaben zu erledigen sind. Etwa die Sprache in den Briefen, die an die Arbeitssuchenden verschickt werden. Die seien so unverständlich im Behördendeutsch formuliert, dass es "kein Wunder" sei, wenn die Menschen damit nichts anfangen könnten.

Überhaupt sind die Sorgen auf dem deutschen Arbeitsmarkt laut der BA-Chefin gerade weniger, ob man die Arbeitslosenquote auf ein noch historischeres Tief drücken kann, sondern wie man genügend Fachkräfte für die vielen offenen Stellen findet. Bei dieser Frage sagt Andrea Nahles klar: "Ohne die Flüchtlingswelle hätten wir ein noch größeres Fachkräfteproblem." Dabei müsse man die Situation heute aber von der im Jahr 2015 unterscheiden. Damals seien die schwierigen Anerkennungsverfahren oft ein "Abenteuer-Parkour" gewesen. Viele Menschen konnten deswegen nicht in Jobs vermittelt werden.

Aus diesen Fehlern habe die Politik gelernt, die Vermittlung der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine - 74 Prozent von ihnen sind Frauen - sei deutlich einfacher als die der Geflüchteten aus Syrien oder Afghanistan. Einfach deshalb, weil es viel weniger bürokratische Hürden gibt. "Das größte Hemmnis ist die Sprache", sagt Nahles. Obwohl viele Ukrainerinnen sehr gut qualifiziert seien, fehle es oft an guten Englischkenntnissen - aber auch an Lösungen für die Kinderbetreuung.

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