Als der Lagerarbeiter Anfang 2016 vor ihm stand und seine Arme ausstreckte, war David Troutman sofort klar, dass er allein nicht würde helfen können. Der Kollege hatte sich die Hände mit einer Chemikalie verätzt und musste dringend ärztlich untersucht werden. Troutman, damals Rettungssanitäter in einem Abwicklungszentrum des Versandhändlers Amazon in Arizona, schickte den Verletzten ins örtliche Krankenhaus. Wenige Tage später erklärte ihm sein Chef, die Verätzungen des Mannes hätten sich als nur oberflächlich erwiesen, die Überweisung in eine Klinik sei eine Fehlentscheidung gewesen. Kurz darauf war Troutman seinen Job los.
Die Szene stammt aus einem Artikel der US-Enthüllungsportale The Intercept und Type Investigations, die sich in einer groß angelegten Recherche mit Amcare, dem firmeninternen Sanitätsdienst bei Amazon, beschäftigt und dazu mehr als ein Dutzend aktuelle sowie frühere Mitarbeiter befragt haben. Die Ergebnisse sind teils haarsträubend: Lagerarbeiter werden dem Bericht zufolge nach Unfällen oft falsch behandelt und an den Arbeitsplatz zurückgeschickt, man verweigert ihnen den Besuch beim Arzt und verschlimmert Verletzungen damit noch, Unfälle werden kleingeredet und vertuscht. Immer wieder, so das Fazit der Investigativreporter, verstießen Amcare-Beschäftigte gegen gesetzliche wie auch gegen konzerninterne Richtlinien - zumeist allerdings nicht aus eigenem Antrieb, sondern offenbar deshalb, weil sie sich von ihren Chefs unter Druck gesetzt fühlten.
Dass es in den 110 Abwicklungszentren, die Amazon allein in den USA betreibt, zu Unfällen kommt, liegt in der Natur der Sache. Pakete fallen aus Regalen, die Mitarbeiter hantieren mit schweren, unhandlichen oder spitzen Gegenständen, mit giftigen Produkten oder ätzenden Flüssigkeiten. Dabei muss alles schnell gehen, 2018 wurden allein am langen Thanksgiving-Wochenende in den USA 180 Millionen Waren über Amazon bestellt. Zu den Stoßzeiten beschäftigt der Konzern zusätzlich zu den 750 000 Festangestellten zig Tausende Hilfskräfte, die oft nur rudimentär für die Arbeit ausgebildet sind. Das Magazin The Atlantic und das Enthüllungsportal Reveal werteten jüngst Daten aus 23 Abwicklungszentren aus - Ergebnis: Bei Amazon kommt es mehr als doppelt so oft zu schwereren Unfällen wie im Branchenschnitt.
Als er wegen der Beschwerden zu Hause blieb, sei er gefeuert worden
Dass es in jedem großen Lagerhaus Erste-Hilfe-Stellen gibt, ist da zunächst eine gute Sache. Die Stationen beschäftigen Sanitäter und sportmedizinische Helfer, die bei Unfällen, aber auch bei Verrenkungen oder Rückenschmerzen eingreifen. Ärzte hingegen arbeiten bei Amcare nicht, auch gelten die Einrichtungen in den meisten Bundesstaaten nicht als Klinik und werden daher auch nicht von den Gesundheitsbehörden überwacht. Zuständig ist stattdessen die OSHA, die Behörde für Arbeitsplatzsicherheit der US-Regierung. Sie ist allerdings dünn besetzt und hat bei Verstößen kaum Sanktionsmöglichkeiten.
Trotz aller Beschwerden ist es der OSHA daher laut Intercept und Type bisher nicht gelungen, die Zustände in den Amcare-Stationen nachhaltig zu verbessern. So gaben Beschäftigte an, Ersthelfer hätten ihnen den Arztbesuch mit dem Argument verweigert, man müsse zuerst zwei Wochen warten, ob die Beschwerden von allein abklängen. Ein Patient, der von einem herabfallenden Paket getroffen wurde und über Kopfschmerzen sowie Sehstörungen klagte, sei in einen dunklen Raum gesetzt worden, obwohl beim Verdacht auf Gehirnerschütterung eine Überweisung zum Arzt zwingend vorgeschrieben sei.
Ähnlich erging es einem Diabetiker, der laut Troutman schon nicht mehr ansprechbar war. Statt den Notruf zu wählen, habe man ihm einen Glukosetrunk verabreicht. Ein anderer Arbeiter berichtete, Amcare-Beschäftigte hätten ihn zwei Wochen lang wegen Rückenschmerzen mit Eis behandelt und ihn dann jedes Mal zurück an den Arbeitsplatz geschickt. Als er wegen der Beschwerden zu Hause blieb, sei er gefeuert worden. Laut Artikel wurden Ersthelfer von Vorgesetzten zudem angehalten, Unfälle zu verschweigen, zu verharmlosen oder zumindest soweit herabzustufen, dass sie den Behörden nicht gemeldet werden müssen.
Ein Firmensprecher wies dem Bericht zufolge alle Vorwürfe gegen Amcare-Mitarbeiter und Vorgesetzte zurück. "Sicherheit hat für uns oberste Priorität", sagte er. Jeder Beschäftigte habe jederzeit das Recht, einen Arzt aufzusuchen, niemand dürfe jemals davon abgehalten werden. Dass die Unfallzahlen so hoch seien, liege nur daran, dass Amazon sie besonders akribisch aufliste. Ein Vergleich mit den Angaben der Konkurrenz sei deshalb "irreführend".
Auch Ex-Ersthelfer Troutman hält viele Angaben für irreführend - etwa die des Firmensprechers. Nach seiner Erfahrung wie auch nach Erinnerung früherer Kollegen, so erklärte er, "interessiert sich Amazon mehr für Geschäftszahlen als für seine Mitarbeiter".