Süddeutsche Zeitung

Amazon:In der wirklichen Welt

Im Internet ist er eine Macht, jetzt eröffnet der Konzern reale Buchhandlungen und Pop-up-Stores, bald sollen auch Geschäfte für Lebensmittel folgen - um das normale Einkaufen geht es dabei aber nicht.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Es gibt auf der ganzen Welt kein langweiligeres Gebäude als ein Einkaufszentrum in den Vereinigten Staaten. Wer so ein hässliches Monstrum jemals betreten hat und nicht sofort wieder geflüchtet ist, der weiß, wie es in allen anderen aussieht, ob in New York oder Seattle oder einem Kaff in Kentucky: rechts das Geschäft mit den Billigklamotten, davor ein Stand mit fettigen Brezeln, weiter hinten die Fressecke mit Burgern und Burritos. Auf dem Weg dorthin Unterwäsche, Kosmetik und Schmuck, in den Ecken jeweils ein Kaufhaus. Es gibt stets die gleichen Geschäfte, die gleichen Waren, den gleichen Gesichtsausdruck bei den Verkäufern.

Es verwundert deshalb, dass in dieser Mall im kalifornischen Santa Anita, eine Autostunde nordöstlich von Los Angeles, noch kein Besucher einen Herzinfarkt erlitten hat - nicht wegen der Burger oder Burritos, sondern aus Verblüffung über diesen Laden, der dort einfach nicht hingehört. Es ist ein Pop-up-Store von Amazon, angesiedelt im Erdgeschoss, zwischen einem Stand für Smartphone-Reparaturen und einem für Parfum. Es ist kein Geschäft, sondern ein Gebilde im Gang, das auf weniger als 60 Quadratmeter Fläche so aussieht, als wäre es gestern aufgebaut worden und morgen schon wieder verschwunden.

"Sie können das auch bestellen und nach Hause liefern lassen."

Der junge Mitarbeiter ahmt das Lächeln des Firmenlogos auf seinem T-Shirt mit seinen Mundwinkeln nach, er will einem die Lautsprecher und Tablets zeigen und von Amazon produzierte Fernsehserien, aber - und das ist die zweite Überraschung bei diesem Besuch - nicht unbedingt etwas verkaufen: "Sie können das auch bequem bestellen und sich nach Hause liefern lassen. Sie können machen, was immer Sie möchten."

Jetzt mal ganz langsam: Amazon, der Internet-Alleslieferer, der Einzelhandel-Revolutionär, der Buchhandlung-von-nebenan-Zerstörer, macht jetzt plötzlich auf wirkliche Welt? Es gibt in Seattle diesen Buchladen aus Stein und Mörtel von Amazon - und laut Wall Street Journal möchte der Konzern nun auch noch in den stationären Lebensmittelmarkt einsteigen. Was ist denn da los?

Es wäre freilich hilfreich, wenn Firmengründer Jeff Bezos wenigstens ein klein wenig so wäre wie Elon Musk, der regelmäßig die Visionen seiner Unternehmen Tesla, Space-X oder Solar City verkündet und dafür gefeiert werden möchte. Bezos hat ebenfalls gewaltige Ideen, er will Menschen ins Weltall transportieren (seine Firma Blue Origin meisterte kürzlich einen Test der Rettungskapsel), er möchte bei der Revolution des Geschichtenerzählens dabei sein (er war wegen des Streamingportals Amazon Prime die am häufigsten gelobte Person bei der Verleihung des Fernsehpreises Emmy Awards im September) und dominiert mit Amazon Web Services den Cloud-Computing-Markt.

Bezos jedoch ist kein Vielredner, es gilt im Gegenteil die Faustregel: Je weniger Amazon über ein Projekt verrät, desto gewaltiger dürfte es werden. Die Pop-up-Stores etwa gibt es bereits seit mehr als zwei Jahren, mittlerweile sind laut Firmen-Homepage insgesamt 21 davon auf Einkaufszentren in den USA verteilt. Aus Unternehmenskreisen ist zu hören, dass Amazon eine gewaltige Expansion mit diesen Geschäften plane, ähnlich den Apple Stores - auch deshalb, weil Kaufhausketten wie Walmart derzeit keine Amazon-Produkte verkaufen oder wie Target erst Ende des Jahres wieder ins Sortiment aufnehmen wollen. Von Amazon selbst gibt es nur dieses Statement: "Wir bieten diese Kioske an, damit unsere Kunden die neuen Geräte ausprobieren oder sich über Dienstleistungen wie Prime oder Serien wie Amazon Originals informieren können." Ein Statement, das so langweilig ist wie ein amerikanisches Einkaufszentrum, aber dennoch mit einer interessanten Botschaft: Die Pop-up-Stores sind eher Ausstellungs- als Verkaufsfläche.

Seattle, University Village. Hier, im Nordwesten der USA, unweit der Firmenzentrale von Amazon, befindet sich der erste stationäre Buchladen des Unternehmens. Auf einer Verkaufsfläche von 700 Quadratmetern werden etwa 6000 Bücher feilgeboten, die Kategorien sind nicht Bestseller oder Kochbücher, sondern: "Leute, die mal so richtig heulen wollen " Oder: "Eltern, denen Unordnung egal ist."Es ist eine Ziegelbox in einem Open-Air-Einkaufszentrum, eine Kopie davon gibt es bereits im Open-Air-Einkaufszentrum in San Diego. Laut dem Unternehmen sind weitere Läden in Portland und Boston geplant, es gibt Gerüchte über einen Laden in New York, insgesamt sollen es bis zu 400 Geschäfte werden - von denen zu befürchten ist, dass dann alle genauso aussehen wie dieser Prototyp in Seattle.

Es riecht dort zwar nach Papier und Leder, das ist aber auch schon die einzige Gemeinsamkeit mit dem Buchladen an der Ecke, den es mittlerweile auch wegen Amazon nicht mehr gibt. Der Kunde läuft von Spitzentitel zu Spitzentitel und wundert sich bisweilen, wie wenig der Massengeschmack der Amazon-Kunden mit seinen eigenen Vorlieben zu tun hat. Das macht jedoch nichts. Die wahrlich herausragend informierte Mitarbeiterin mit Amazon-Lächeln auf dem T-Shirt und im Gesicht weist einen darauf hin, dass sämtliche Bücher der Welt auf der Internetseite erhältlich seien und auch auf ein Lesegerät heruntergeladen werden können. Ach ja, dieses Gerät namens Kindle könne der Kunde ebenfalls kaufen, verschiedene Varianten lägen dort vorne, gleich neben der Kasse. Aber natürlich, sagt die Mitarbeiterin, könne man ihn auch im Internet bestellen. Kein Problem.

Nur mal so ein Gedanke: Könnte es sein, dass Amazon diese Buchläden eröffnet und es gar nicht mal so schlimm fände, wenn die Menschen dort kaum etwas kaufen? Dass diese Expansion in die wirkliche Welt eher dazu dient, dass die Menschen noch intensiver digital einkaufen? Eines der wenigen Statements von Bezos zu den Buchläden stammt von einem Gespräch mit Aktionären im Mai: "Es geht gar nicht so sehr darum, möglichst viel Umsatz damit zu generieren. In dieser frühen Phase wollen wir lieber was lernen."

Amazon ist schon jetzt der wertvollste Einzelhändler - und will noch mehr

Man muss sich Jeff Bezos vorstellen wie eine Spinne, die vor mehr als 20 Jahren in einem riesigen Haus voller Fliegen nach einer günstigen Ecke für das erste Netz gesucht hat. Er war kein Buchhändler, sondern Informatiker. Er wählte ein relativ ruhiges Zimmerchen (die Buchbranche) und begann in der Ecke ein Netz zu spinnen. Nach den ersten Erfolgen gab es bald nicht mehr nur dieses eine Netz in der einen Ecke in nur einem Zimmer, Bezos expandierte immer weiter und ließ sein Unternehmen zum wertvollsten Einzelhändler der Vereinigten Staaten wachsen, auf der Liste der wertvollsten Börsenunternehmen weltweit liegt Amazon inzwischen auf Platz vier. Das Ziel von Bezos: die ganz fetten Fliegen im ganzen Haus zu fangen.

Dazu passt die Meldung, dass der Platzhirsch für Onlinehandel nun auch den stationären Lebensmittelmarkt revolutionieren möchte. Auf dem Technikblog Geekwire sind bereits Fotos von einer Baustelle für einen Amazon-Supermarkt in Seattle zu sehen, die aus Unternehmenskreisen kolportierte Idee von "Project Como" klingt tatsächlich faszinierend: Der Kunde kann frische Lebensmittel über eine App bestellen und einen Abholzeitpunkt festlegen, eine Software für Kfz-Nummernschilder erkennt das Fahrzeug, ein Mitarbeiter packt die Einkäufe in den Kofferraum. Alles andere wird nach Hause geliefert, in nicht allzu ferner Zukunft gerne auch per Drohne oder Bodenroboter. Ach ja: Der offizielle Kommentar von Amazon auf SZ-Anfrage lautet, dass es keinen Kommentar dazu gebe. Langweiliger als ein Job in der PR-Abteilung von Amazon ist nur, der Architekt von US-Einkaufszentren zu sein.

Auf dem Markt für Lebensmittel konkurriert Amazon nicht nur mit dem Tante-Emma-Laden an der Ecke, sondern mit anderen Platzhirschen wie Walmart oder Safeway und Lieferservices wie Instacart, Doordash oder Grubhub. Wie sinnvoll ist es, Supermärkte zu bauen, Eigenmarken zu produzieren und dann mit bereits existierenden Ketten zu konkurrieren? Genau das jedoch ist die falsche Frage. Amazon geht es bei der Expansion in die wirkliche Welt um etwas ganz anderes.

Um frische Lebensmittel zu liefern, muss man nahe beim Kunden sein

Bereits seit sechs Jahren können Amazon-Kunden auch Nahrungsmittel bestellen, das Angebot in Deutschland umfasst inzwischen knapp 500 000 Produkte, in den USA sind es mehr als 800 000. Laut einer Studie von Morgan Stanley soll der US-Markt für im Internet bestellte und dann gelieferte Lebensmittel in diesem Jahr auf 42 Milliarden Dollar wachsen. Im vergangenen Jahr bestellten gerade einmal acht Prozent der Amerikaner frische Lebensmittel im Internet, mittlerweile sollen es mehr 26 Prozent sein.

Um fette Fliegen fangen zu können, braucht eine Spinne ein möglichst engmaschiges Netz. Wer frische Lebensmittel pünktlich liefern möchte, der braucht nicht nur ein Logistikzentrum im Niemandsland. Er braucht Verteil-Stationen möglichst nahe am Kunden. Dass daraus auch Supermärkte werden können, liegt eher daran, dass in den USA viele Geschäfte rund um die Uhr geöffnet sind: Wenn nachts Regale aufgefüllt werden, dann kann der Kunde dort auch einkaufen - es ist ja ohnehin jemand da. Wenn es eine Amazon-Station mit Lebensmitteln gibt, dann kann der Kunde seine Einkäufe auch gerne selbst abholen. Es ist ja ohnehin jemand da.

Es ist deshalb gar nicht so unwahrscheinlich, dass Amazon all die Geschäfte in der wirklichen Welt nur deshalb eröffnet, damit noch mehr Menschen letztlich digital einkaufen. Das Unternehmen verfügt über Flugzeuge und Liefertrucks, es experimentiert mit Drohnen und Robotern. Es gibt Pop-up-Stores, Buchläden und wohl bald auch Supermärkte. Bezos spricht kaum darüber, was auf der seit mehr als 20 Jahren existierenden Investitions-Kommunikations-Skala des Unternehmens nur bedeuten kann: Amazon plant Gewaltiges.

Bezos ruht sich nicht aus in seinen mittlerweile gewaltigen und in zahlreichen Räumen gesponnenen Netzen. Trotz der zahlreichen Investitionen dürfte er an diesem Donnerstag zum sechsten Mal in Folge ein profitables Quartal verkünden. Amazon ist zwar seit jeher eine Technologiefirma, war jedoch auch schon immer in der wirklichen Welt angesiedelt - schließlich müssen die Waren ja von einem Ort zum anderen transportiert werden. Die Spinne ist ziemlich fett geworden in den vergangenen Jahren, doch wirken all die Netze stabil genug, um die Spinne weiter mit Nahrung zu versorgen.

Das wird auch beim beim Besuch in diesem Einkaufszentrum in Südkalifornien deutlich. Weiter hinten übt sich ein junger Mann als Marktschreier für Sonnenbrillen, gleich daneben bietet einem eine junge Frau recht aufdringlich eine Duftprobe an. Der Amazon-Mitarbeiter dagegen steht in seinem Pop-up-Geschäft im Gang und wartet freundlich lächelnd darauf, dass potenzielle Kunden auf dem Weg von einem Geschäft ins nächste kurz mal bei ihm hängen bleiben - und dann nicht mehr fortkönnen.

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Quelle:
SZ vom 27.10.2016
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