Götz Rehn ist Gründer der größten deutschen Bio-Supermarktkette. Alnatura gehört zu den Profiteuren des Dioxin-Skandals, der die Nachfrage nach Bio-Produkten steigen lässt. Der 60-Jährige fordert ein Umdenken in der Landwirtschaft und der Lebensmittelindustrie. Das Geschäft der großen Konzerne kennt er aus eigener Erfahrung. Als Manager arbeitete er sieben Jahre für den Schweizer Nestlé-Konzern; dort brachte er industriell gefertigte Törtchen auf den Markt.
SZ: Herr Rehn, welche Erinnerung haben Sie an das Essen Ihrer Kindheit?
Götz Rehn: Ich hatte sehr großzügige Großeltern. In deren Garten bekam ich ein Stück Land, wo ich selbst etwas anbauen konnte. Ich hatte eigene Himbeeren, Gelbe Rüben und vieles mehr. Der Speiseplan zu Hause war streng geregelt. Ich wusste also immer, was es an welchem Tag zu essen gab. Freitags gab es entweder Kartoffel-, Erbsen- oder Linsensuppe. Das fand ich nicht sehr attraktiv.
SZ: Was hat Ihnen nicht geschmeckt?
Rehn: Als Kind mochte ich keine Tomaten. Als ich mit meinem Vater bei Verwandten in Hamburg war, traute ich mich nicht, das zu sagen. Aus Höflichkeit habe ich dann Tomatensuppe gegessen, allerdings musste ich dann ziemlich schnell den Raum verlassen. Inzwischen esse ich Tomaten gern.
SZ: Kochen Sie selbst?
Rehn: Das ist leider eher die Ausnahme, aber am Wochenende koche ich gern. Neuerdings vor allem vegetarisch.
SZ: Essen Sie aus Überzeugung wenig Fleisch?
Rehn: Vor einigen Jahren wurde mir bewusst, wie viel Wasser für die Fleischerzeugung benötigt wird. Wasser ist ein lebenswichtiger Stoff, der auf der Erde immer knapper wird. Deshalb habe ich meinen Fleischkonsum eingeschränkt. Mit der Zeit hat das bei mir auch zu einer Veränderung meiner Vorlieben geführt.
SZ: Ursprünglich wollten Sie wie Ihr Vater Mediziner werden. Dann sind Sie als Manager beim Schweizer Nahrungsmittelkonzern Nestlé eingestiegen. Was hat Sie daran interessiert?
Rehn: Ich habe in den sieben Jahren bei Nestlé sehr viel gelernt, auch wenn ich häufig angeeckt bin, weil ich andere Vorstellungen von Zusammenarbeit hatte. Aber man hat mich dort neue Wege gehen lassen, wahrscheinlich auch deshalb, weil ich mit dem, was ich tat, einigermaßen erfolgreich war.
SZ: Sie waren unter anderem für die Einführung der Yes-Torty verantwortlich - ein kleines Tortenstück, unglaublich süß und fettig und alles andere als gesund. Würden Sie das wieder so machen?
Rehn: Aus der heutigen Perspektive ist das natürlich nicht sinnvoll. Man kann sich in einem so großen Konzern aber nicht aussuchen, was man für ein Produkt macht. Das Yes-Torty, das es heute nicht mehr gibt, war trotzdem eine geniale Erfindung, weil es ein Kuchen mit langer Haltbarkeit war. Andere Produzenten waren an dem technisch hochkomplexen Herstellungsverfahren gescheitert.
SZ: Das ist sicher ungesund. Vielen Verbrauchern ist die industrielle Lebensmittelproduktion suspekt. Zu Unrecht?
Rehn: Nein. Das Ideal ist immer eine handwerkliche Produktion. Wir bieten in der Alnatura-Brottheke deshalb kein Brot aus der Fabrik an, sondern arbeiten mit regionalen, meist kleinen Bäckereien zusammen. Das Brot schmeckt ganz anders. Wichtig ist zu wissen, woher das Getreide kommt und wie es verarbeitet wird. Für uns spielt auch der Bezug zur Region eine große Rolle. Wir arbeiten daher mit einer Reihe von Höfen zusammen.
SZ: Warum haben Sie Nestlé verlassen?
Rehn: Für mich war bald klar, dass das System Nestlé nicht meinen Wertvorstellungen entspricht. Ein Konzern, der Aktionäre hat, braucht eine ganz andere Unternehmensführung als etwa Alnatura. Kapital ist wie ein Lehen. Ich benutze es, um eine Idee zu verwirklichen. Mein Ziel ist es nicht, möglichst viel Gewinn zu machen, sondern beste Produkte zu entwickeln.
SZ: Aber Sie wollen doch auch Geld verdienen mit dem, was Sie tun.
Rehn: Nein, das ist nicht das Ziel, sondern nur eine Folge. Ich will Dienste und Produkte anbieten, die so interessant sind, dass die Leute sie gern kaufen. Ein erfolgreiches Wirtschaften hat nichts zu tun mit Hedonismus und Habenwollen. Je mehr man investiert, desto mehr bekommt man zurück.
SZ: Sie sind Anthroposoph, was lernt die Wirtschaft von der Anthroposophie?
Rehn: Sie prägt das Weltbild vom frei denkenden und handelnden Menschen. Das ist mein Lebensmotto und auch das unseres Unternehmens. Dadurch wird Wirtschaft neu definiert. Es geht nicht mehr darum, den Menschen zu dressieren für die Wirtschaft, sondern eine Wirtschaft zu schaffen, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert und zwar so, dass der Umwelt kein Schaden entsteht.
SZ: Sie haben 1987 Ihre erste Filiale eröffnet, mit einem Startkapital von 500.000 DM. Öko-Lebensmittel waren zu der Zeit nicht besonders gefragt. Warum also ausgerechnet ein Bio-Laden?
Rehn: Der Lebensweg von Alnatura ist sehr ungewöhnlich. Normalerweise hat ein Unternehmer eine tolle Idee. Meine Idee war vor allem ein Ideal. Was wir verkaufen, in diesem Fall Bio-Ware, war nur eine Folge. Ich hatte zunächst Konzepte für Kinderkleidung und ein vegetarisches Restaurant. Ich hätte aber auch Holzhäuser entwickeln können.
SZ: Weil Sie die Häuser erwähnen: Als Kind haben Sie viel gebastelt und gebaut, ein Hobby, bei dem Sie einige Schrammen davongetragen haben.
Rehn: Das stimmt. Wir haben als Kinder Seifenkisten gebaut und sind damit die abschüssigen Waldwege in der Umgebung von Freiburg hinuntergefahren. Bremsen konnten wir damit nicht so richtig. Da gab es den ein oder anderen Unfall. Ich bin fast an jeden Körperteil zusammengenäht worden, was man nicht sieht, weil mein Vater ein guter Arzt war.
SZ: Sind Sie als Unternehmer auch so risikofreudig?
Rehn: Ich bin im Geschäftsleben sicher kein Draufgänger. Aber eine Idee zieht mich manchmal über das Mögliche hinaus. Doch das zeichnet einen Unternehmer aus. Das, was andere für unmöglich halten, sehe ich als machbar an. Da muss man dann viel Überzeugungsarbeit leisten.
SZ: Nicht nur Deutsche-Bank-Chef Ackermann bemisst seinen Erfolg an einer hohen Umsatzrendite. Was ist aus Ihrer Sicht ein gutes Geschäft?
Rehn: Auch Alnatura braucht einen soliden Rückfluss an Kapital, aber bei weitem nicht in Ackermann'schen Größenordnungen! Das muss sein, weil die Einkommen der Mitarbeiter steigen wie auch die Kosten für Energie und Miete. Erfolg ist für mich, wenn ein Laden jedes Jahr mehr Umsatz macht, unsere Kunden zufrieden sind und im Unternehmen gute Stimmung herrscht.
SZ: Im Frühjahr war die Stimmung nicht gut. Sie wurden von Gewerkschaften und Medien schwer angegriffen, weil Sie Mitarbeiter zum Teil unter Tarif bezahlt haben.
Rehn: Über die Meldungen der Presse waren viele Mitarbeiter im Unternehmen verärgert. Da gab es Zeitungsüberschriften, in denen man sich lustig machte, dass Beschäftigte bei Alnatura Bienenkurse anstelle von Einkommen erhalten.
SZ: War das falsch?
Rehn: Man muss wissen, dass es bei Alnatura ein eigenes Bildungswesen gibt. Mitarbeiter haben die Möglichkeit, Seminare und Kurse vorzuschlagen. Darunter war tatsächlich auch ein Bienenkurs. Da war ich zwar skeptisch, aber es haben sich genug Interessenten gefunden. Alnatura finanziert diese Initiativen der Mitarbeiter. Das kann auch eine Theatergruppe, ein Chor oder ein Yogakurs sein. Diese Kurse sind nie als Ersatz für Einkommen gemeint.
SZ: Trotzdem, Sie haben unter Tarif bezahlt. Warum?
Rehn: Die Einkommensordnung bei Alnatura hat mit den Fortbildungsangeboten nichts zu tun. Unsere Gehaltsordnung sah vor, dass alle Mitarbeiter für vergleichbare Leistungen das gleiche Gehalt bekommen, egal in welchem Bundesland sie arbeiten. Wir hielten das für vernünftig, mussten aber erfahren, dass dies in der Öffentlichkeit überhaupt nicht diskutabel war. Für mich war das eine völlig neue Erfahrung.
SZ: Sie fühlten sich missverstanden?
Rehn: Ja. Es gab einen Zeitungsartikel, der auf einem einzigen Fall, einer Kassiererin in Berlin, basierte. Dieser Fall wurde generalisiert, und andere Medien wussten das dann zu bestätigen. Schockiert hat mich, dass sich die wenigsten an uns direkt gewandt haben, um unsere Sicht der Dinge zu hören.
SZ: Sie haben dennoch auf die Kritik reagiert und Ihr Tarifsystem angepasst.
Rehn: Wegen des öffentlichen Drucks, für mich war das eine schwere Entscheidung. Intern hatten wir harte Diskussionen, viele sahen darin ein Einknicken. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt aber den Eindruck, dass wir keine andere Möglichkeit hatten. Jetzt halten wir uns an die Tarife in jedem Bundesland mit der Folge, dass wir für vergleichbare Leistungen unterschiedliche Einkommen zahlen.
SZ: Welches Gehalt zahlen Sie sich selbst, und wie viel Gewinn macht das Unternehmen?
Rehn: Über mein Einkommen und das unserer Mitarbeiter äußere ich mich nicht öffentlich. Das gehört zum Schutz der Persönlichkeit. Was die Ertragslage angeht: Wir machen den Gewinn, den wir brauchen, um in den nächsten Jahre gut über die Runden zu kommen. Wir wollen uns auch weiterhin aus dem laufenden Geschäft finanzieren. Deshalb waren wir auch in der zurückliegenden Krise unabhängig von den Banken und konnten weiter expandieren.
SZ: Sie haben gerade die 59. Filiale eröffnet, der Jahresumsatz des Unternehmens liegt bei knapp 400 Millionen Euro. Welche Wachstumsziele haben Sie für die nächsten Jahre?
Rehn: Im Januar setzen wir uns zusammen und planen die nächsten fünf Jahre voraus. Da beschäftigen wir uns aber mehr mit den Fragen, was gibt es für Trends, auf welche Veränderungen müssen wir uns einstellen. Wir können nur wachsen, wenn wir schneller und besser auf Kundenbedürfnisse reagieren als die Konkurrenz.
SZ: Durch den Dioxin-Skandal gibt es derzeit eine sehr hohe Nachfrage nach Bio-Produkten. Auch in Bio-Eiern ist das Gift schon in der Vergangenheit aufgetaucht. Wie sicher sind Bio-Produkte?
Rehn: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ein vergleichbarer Fall wie jetzt im Bio-Landbau vorkommt, denn Abfallfette sind hier grundsätzlich verboten. Darüber hinaus dürfen Betriebe, die einem der deutschen Öko-Verbände angehören, nur biologisch erzeugte Pflanzenöle einsetzen. Und der überwiegende Teil der Futtermittel muss sogar auf dem eigenen Hof erzeugt werden.
SZ: Kann die Bio-Branche langfristig von diesem neuen Skandal profitieren?
Rehn: Lebensmittelskandale in der Agrarindustrie bewirken immer ein Umdenken bei den Konsumenten. Die Menschen erkennen, dass die ganzheitlich wirtschaftende Bio-Agrar-Kultur der sinnvolle Weg zur Erzeugung von Lebensmitteln ist. Wir registrieren in diesen Tagen eine steigende Nachfrage in den Alnatura-Märkten.
SZ: Wie stark kann der Bio-Markt überhaupt noch wachsen?
Rehn: Es ist alles möglich, man muss es nur richtig machen. Die Menschen, die Bio-Produkte kaufen wollen, sind da. Der Trend geht im Handel zu einem profilierten Angebot. In einem Geschäft gibt es nur Krawatten, im nächsten nur Hemden. Bei uns gibt es eben nur Bio, und das funktioniert.
SZ: Während der Wirtschaftskrise haben die Deutschen weniger Öko-Produkte gekauft. Ist Bio zu teuer?
Rehn: Mir ist es ein Anliegen, dass sich möglichst viele Menschen Bio-Produkte leisten können. Wir bemühen uns um günstige Preise durch effiziente Organisation. 500 Gramm Alnatura-Spaghetti gibt es beispielsweise schon für 85 Cent. Damit sind wir teilweise günstiger als der normale Einzelhandel. Es gibt allerdings im Bio-Bereich auch Anbieter, deren Preise nur schwer nachvollziehbar sind. Das werden die Kunden auf Dauer nicht akzeptieren.
Interview: Silvia Liebrich