Süddeutsche Zeitung

Allmendingers Welt:Wer ist wir

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Auffällig, wie intensiv heute die Politik ein "Wir-Gefühl" beschwört. Was sagt das über das Gemeinwesen aus?

Von Jutta Allmendinger

Wenn jemand das Sagen hat, dann wir. Wir schaffen das. Yes, we can. Wir sind das Volk. Eine Analyse der Bundestagsreden zeigte zuletzt, dass das "Wir" gegenüber dem "Ich" immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. Wir werden also immer häufiger politisch reklamiert.

Sind das nur Slogans, oberflächliche Appelle an eine Solidarität, die es in der individualisierten, manche sagen egoistischen Gesellschaft schon lange nicht mehr gibt? Die Analyse von Bundestagsreden zeigt, dass das "Wir" die politische Sprache im Bundestag erst in den 1980er-Jahren übernahm. Es wurde also zu einer Zeit wichtig, in der die Vielfalt der deutschen Gesellschaft zur neuen Normalität wurde. Milieus und Subkulturen ersetzten Klassenkonzepte. Die Medienmonopole weniger Zeitungen und des öffentlich-rechtlichen Fernsehens wurden durch taz-Gegenkultur und Privatsender herausgefordert.

Erfolglos blieb der Versuch der Bundesregierung, die türkischen Gastarbeiter Anfang der 1980er-Jahre mit einem Abschiedsgeld aus Deutschland auszuladen. Und am Ende des Jahrzehnts kamen die neuen Bundesländer hinzu. "Wir sind ein Volk" - dahinter verbirgt sich schon zur Wiedervereinigung die ganze Vielfalt der bundesdeutschen Gesellschaft.

Es besteht damit die berechtigte Frage, ob ein solches "Wir" angesichts der großen Vielfalt von Lebensentwürfen nicht generell falsch vereinnahmend ist. Seinen selbstverständlichen Ort hat es nämlich nicht im Großen, wie neuere Forschungsarbeiten zeigen. Fragt man die Menschen nach einem "Wir-Gefühl", denken sie eher an einen kleinen Kreis in ihrem Leben: Familie, Freunde, gute Bekannte. Die großen Wirs, die politisch schnell heraufbeschworen werden, sind das nicht. Gleiches gilt für den Begriff der Heimat, der in den letzten Jahren eine große Renaissance erfahren hat. Auch hier denken viele Leute eher an ihre engsten sozialen Beziehungen. Heimat ist für die meisten zuerst da, wo die Menschen sind, die ihnen etwas bedeuten.

Außerdem kann ein solches "Wir" etwas Trügerisches haben. Nehmen wir die deutsche Mittelschicht, die die deutsche Bevölkerung trotz aller Abgesänge nach wie vor eint. Dieses mittelschichtige "Wir" hat wenig mit der objektiven Verteilung von Einkommen und Vermögen zu tun. Dafür viel mit der eigenartigen Weise, mit der man sich ihr zurechnet. In einer Studie haben wir Menschen danach gefragt, mit wem sie sich in der Gesellschaft vergleichen, mit dem Ergebnis: Reiche Menschen schotten sich nach unten ab und orientieren sich nach oben. "Relativ zu denen da oben," sagen sie, "bin ich ja fast arm."

Das genaue Gegenteil findet sich bei den nach der Statistik armen Menschen: Sie vergleichen sich nach unten. Relativ zu denen, die wirklich nichts haben, sagen sie: "Es geht mir ja noch gut." Und selbst diejenigen, die anerkennen, wie wenig Geld sie haben, können sich - bescheiden und arbeitsam - noch moralisch zur Mittelschicht rechnen.

Der Alltag eines guten Systems funktioniert auch ohne große zwischenmenschliche Identifikation

Ein solch "gefühltes Wir" entbehrt zwar faktischer Grundlagen. Doch kann es ganz konkrete Folgen haben. Denken wir daran, wie die Diskussion zur Neugestaltung von Erbschaft- und Vermögensteuer als Neiddebatte abgetan wird. Oder an die Relativierung von Kinderarmut mit dem Hinweis darauf, dass in Deutschland schließlich niemand verhungere. Solange alle sich irgendwie als Teil der Mittelschicht fühlen, finden Debatten über Ungleichheit nicht den gesellschaftlichen Resonanzraum, der Voraussetzung für tief greifende Gesetzesreformen zur Angleichung von Einkommen und Umverteilung von Vermögen ist.

Ist das "Wir" damit tatsächlich erledigt? Der französische Philosoph Tristan Garcia hat in seiner Philosophie über dieses "Wir" dargelegt, dass ohne eine derartige Zugehörigkeit Politik überhaupt nicht denkbar wäre. Nachdem die alten, für selbstverständlich geglaubten Wirs der Nationalität, Klasse oder des Geschlechtes verloren gegangen seien, müsse man neue Formen der Identifikation finden. Gelinge dies nicht, so Garcia, herrsche der heutige Kampf der einen gegen die anderen Wirs. Das Misstrauen, das daraus erwachse, mache eine gemeinwohlorientierte Politik unmöglich.

Der Alltag eines guten Gemeinwesens funktioniert aber auch ohne die große zwischenmenschliche Identifikation. Politik, die das Gemeinwohl im Blick hat, lässt sich ebenso gut über Möglichkeiten zum Kontakt denken; etwa durch sozial durchmischte Wohnviertel und Schulen; durch eine gut ausgebaute öffentliche Infrastruktur, von Parks über Geschäfte bis hin zu Bibliotheken; schließlich durch eine Politik, die dem Einzelnen überhaupt genügend Zeit und Geld zubilligt, um den Kopf mal frei zu bekommen.

Es geht also um die Infrastrukturen des Alltags. So selbstverständlich sie uns scheinen, so tief greifend ist ihre Wirkung. Über persönlichen Kontakt auf Augenhöhe werden die vielen kleinen und größeren Wirs vor Abschottung bewahrt. Die Einzelnen können gemeinsames Interesse entdecken, sich zum gemeinsamen Handeln entschließen - mit der Option zum Wir. Eine Politik, die zu solchen Wirs befähigt, müsste sich nicht hinter deren Beschwörung verstecken.

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SZ vom 04.10.2019
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