Allmendingers Welt:Unsere Heimaten

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Was ist das eigentlich, Heimat? Damit die Heimat eine Zukunft haben kann, muss sie aus dem engen Korsett der Herkunft befreit werden.

Von Jutta Allmendinger

Die Heimat war einst ein romantisches Gegenkonzept zur Entfremdung in der Großstadt, bis sie von den Nationalsozialisten vereinnahmt wurde. Sie musste für all das stehen, was es vermeintlich gegen Fremde zu verteidigen galt. Nach dem Zweiten Weltkrieg beschränkte sich die "Erhaltung der Heimat" mehr und mehr auf den Freizeitbereich, Fachwerkhäuser, Bräuche und Trachten. Es folgte der massenmediale Konsum: Heimatfilm, Heimatroman, Heimatlieder, Heimattourismus. Gleichzeitig verschwand der Begriff aus dem offiziellen Sprachgebrauch. Aus der Bundeszentrale für Heimatdienst wurde 1963 die Bundeszentrale für politische Bildung. Das Bild des Landes war geprägt vom Wirtschaftswunder, das im Westen ein maßgeblicher Faktor für das Vertrauen der Menschen in die Institutionen war. Romantische Vorstellungen von Heimat konnten da nicht mithalten.

Für ein Buch, das ich gerade mit Jan Wetzel schreibe, haben wir uns das Thema genauer angesehen. Denn die Heimat macht erneut Karriere. Gehofft wird, die Vielfalt der Gesellschaft wieder in einer gemeinsamen, meist regional gedachten Identität einzuhegen. Der Aufgabenbereich des Bundesinnenministeriums wurde um die "Heimat" ergänzt. Es gehe nicht um "Dirndl oder Lederhose", so Horst Seehofer. "Sondern um gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Regionen und um den gesellschaftlichen Zusammenhalt". Konkret bedeutet das: ländliche Entwicklung, Engagement, Integration. Es sind große politische Themen unserer Zeit.

Ein Haus auf Sylt. Heimat oder nur ein Klischee von Heimat? Unter Heimat verstehen die Menschen einen Ort der Geborgenheit: Heimat als Wohlfühlfaktor. (Foto: Michael Reidinger/dpa)

Die ungleichen Lebensbedingungen in Ost und West zeigen: Heimat hat eine ökonomische Dimension. Sie bleibt eine eigenartige Mischung aus den objektiven sozialräumlichen Problemen einerseits und der emotionalen Ebene, den Hoffnungen und Wünschen der Menschen andererseits. Politisch könnte diese Verbindung sehr wirksam sein. Denn Heimat überbrückt den empfundenen Abstand zwischen Menschen. Die Anderen bleiben nicht anders, wenn sie dieselbe Identität wie ich haben. Identität bindet mich an meine Umgebung und lässt mich engagiert sein.

Haben die Menschen überhaupt ein einheitliches Verständnis von Heimat? Mithilfe der Vermächtnisstudie haben wir genauer nachgesehen. Am häufigsten verstehen die Menschen unter Heimat einen Ort der Geborgenheit: Heimat als Wohlfühlfaktor. Etwas weniger Zustimmung findet ein Konzept, das Heimat territorialnationalistisch fasst, also die gemeinsame Sprache oder das Land, in dem man lebt, hervorhebt. Ein weiterer Faktor bezieht sich auf eine Kultur, die ich mit anderen teile. Hinzu kommt schließlich ein sentimentaler Faktor. Heimat ist "etwas von früher". Bildungsreiche machen sich insgesamt weniger aus der Heimat. Sie verweisen selten auf die gemeinsame Kultur oder einen Ort, an dem andere Menschen denken wie sie und ihre Sprache sprechen. Heimat wird nicht gleichgesetzt mit Deutschland oder Besitz oder Geborgenheit.

WZB-Präsidentin Jutta Allmendinger, Franziska Augstein und Nikolaus Piper schreiben jeden Freitag im Wechsel. Illustration: Bernd Schifferdecker (Foto: N/A)

Für Menschen hingegen, die bildungsarm sind, bedeutet Heimat gleichermaßen Geborgenheit wie "etwas von früher" - eine verlorene Geborgenheit also. Außerdem teilen sie insbesondere das nationalstaatlich-territoriale Verständnis, für sie ist die kulturelle Einheit wichtig.

Dass Heimat "etwas von früher" sei, dem stimmen Ostdeutsche deutlich stärker zu als Westdeutsche. Das damit verbundene Gefühl existenziellen Verlustes erklärt auch, warum rechtspopulistische Deutungsmuster im Osten weiter verbreitet sind. Zwar haben die DDR und auch die "alte BRD" gleichermaßen aufgehört zu existieren, dennoch bestehen sie als positive Erinnerungen fort. Im Fall der DDR, die tatsächlich abgewickelt wurde, ist dies aber viel konkreter. Die Fiktion der verlorenen Heimat wird umso wirkmächtiger, je weiter das Ereignis zurückliegt.

Der Schriftsteller Ludolf Wienbarg schrieb 1834, dass die "deutsche Gemüthlichkeit" ein "schönes Ding" und für den Niedersachsen nichts gemütlicher sei als die angeborene Sprache. "Doch ein schöneres Ding ist der muthige Entschluß, die Gemüthlichkeit einstweilen auszuziehn, wenn sie uns zu enge wird."

In der Debatte um Immigration wurden Konflikte unter dem Begriff der Heimat verhandelt

Eng soll Heimat tatsächlich nicht sein. Wir müssen die politische Bildung neu aufstellen oder zumindest massiv ausbauen. Wir müssen (potenziell) bildungsarme Menschen vertraut machen mit der Welt. Das enge Korsett der Herkunft sprengen. Und wir müssen die strukturellen Entwicklungen anerkennen, die Heimat verändern werden. In den vergangenen Jahrzehnten war man von einer quasi automatischen Auflösung der alten nationalstaatlichen Ordnungen durch Globalisierung und Freihandel ausgegangen. Dass die europäische Einigung weiter voranzutreiben sei, galt als politischer Konsens. Heute hingegen wird sichtbar, dass sich die Entwicklung der Weltgesellschaft weder als automatische Durchsetzung liberaler Demokratien noch als neue Spaltung oder "Kampf der Kulturen" fassen lässt.

All diese Konfliktlagen haben sich in der Debatte um Immigration verdichtet und wurden unter dem Begriff der Heimat verhandelt. Damit er auch in Zukunft für unsere Gesellschaft trägt, müssen wir ihn öffnen - sind es doch gerade die durch Krieg und wirtschaftliche Not Vertriebenen, die in Europa ein neues Leben, vielleicht auch eine neue Heimat suchen. Letztendlich könnte die Frage des Wohlstands eine entscheidende Rolle spielen. Die gemeinsame Beheimatung der Menschen ist vielleicht dann besonders erfolgreich, wenn beides besteht: grundlegende wirtschaftliche Sicherheit, hergestellt durch einen Sozialstaat, der um angeglichene Lebensverhältnisse und Chancengleichheit bemüht ist, und gesellschaftliche Reibungsflächen: Foren, in denen auf Augenhöhe darüber gestritten wird, in welche Richtung sich unsere Heimaten entwickeln sollten.

© SZ vom 16.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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