Bier, Wein und Drinks:Rausch ja, Kater nein: Warum alkoholfreie Getränke boomen

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Bunte Cocktail-Runde in einer Bar. Doch die Gläser werden heute immer öfter mit Drinks ohne Alkohol befüllt. (Foto: Mirko Vitali/Alamy Stock/mauritius images)

Weltweit wird es immer populärer, Alkoholfreies zu trinken. Und das Angebot wächst enorm. Das zeugt von einem fundamentalen gesellschaftlichen Wandel. Was ist da los?

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Was für eine witzige, aber auch seltsame Erfahrung: Plötzlich fühlt man sich angetüdelt und kichert sogar über Dinge, die nun wirklich nicht lustig sind. Macht Komplimente, die ein bisschen ungelenk ausfallen. Spürt auf der Haut dieses Kribbeln und denkt: Könnte das einer dieser Abende werden, die unvermutet zum unvergesslichen Erlebnis eskalieren?

Gemeinsam mit Freunden sitzt man in der Hausbar der Nachbarin, allerhand Flaschen mit psychedelisch-bunten Etiketten stehen da. Hier und jetzt startet ein hochspannendes Experiment, das von fundamentalem gesellschaftlichen Wandel kündet: Trinken ohne Alkohol - was stellt das mit uns an? Alle Teilnehmer unterziehen sich währenddessen dem Pustetest, und tatsächlich: null Komma null Promille. Dennoch sagen alle, sie spürten etwas, das sie eher mit Alkoholkonsum assoziieren: wohliges Kribbeln, lockere Zunge, ein klein wenig Enthemmung. Ist das der Placeboeffekt, oder ist es doch etwas anderes?

Serviert wurden bisher: ein Moscow Mock Mule, also ein Gemisch aus alkoholfreiem Gin, Zitronensaft und zuckerfreiem Ingwerbier. Außerdem Bonbuz, ein "alkoholfreier Spirit" mit Kräutern und Aminosäuren, gemischt mit frisch gepresstem Orangensaft und kalorienarmem Tonic Water. Danach Varianten der Marke Three Spirit: Der Livener enthält Zutaten wie Löwenmähne-Pilze, Chinesische Spaltkörbchen, Kurkuma, Guayusa; das soll euphorisch machen. Oder Social Elixir: schwarze Melasse, Kokosnussessig, Indisches Basilikum und Damiana für Geselligkeit und gute Laune. Schließlich Rasāsvāda mit Chrysantheme, Yunnan Pu-erh-Tee und Artischocke gegen Müdigkeit. Funktioniert tatsächlich.

Die Angst, etwas zu verpassen

Der Test soll klären, was das eigentlich für ein Zeug ist, das derzeit überall gehypt wird. Um 33,2 Prozent ist weltweit der Markt mit nicht-alkoholischen Ersatzgetränken gewachsen; die auf alkoholische Getränke spezialisierten Marktforscher vom Londoner IWSR prognostizieren, dass der Anstieg in den kommenden Jahren bei jeweils mindestens 30 Prozent liegen wird. Die Analysefirma Fior Markets erwartet, dass die Branche weltweit von derzeit knapp einer Billion Dollar pro Jahr wachsen wird - auf 1,7 Billionen Dollar bis 2028. Ja, richtig gelesen: Billionen.

Es geht um den Rausch ohne Alkohol, erzeugt vielleicht durch den Placeboeffekt, womöglich aber durch die anderen Zutaten. Jedenfalls lässt sich eines nicht leugnen: Es tut sich etwas, gesellschaftlich und damit zugleich wirtschaftlich. Davon zeugt auch dieses Meme, das derzeit in den sozialen Medien kursiert: "Die Welt wäre ein viel besserer und sicherer Ort, wenn Leute Cannabis und Magic Mushrooms konsumieren würden. Alkohol und Kippen sind doch Boomer-Technologie."

Das Experiment an der Hausbar resultierte aus einer Gruppen-SMS: "Wir sollten uns mal wieder auf ein Bierchen treffen." Schreibt man ja oft so hin, das mit dem Bierchen, auch wenn man womöglich selbst gar keinen Alkohol trinkt. Die erste Antwort: "Treffen ja, bin aber seit Anfang des Jahres trocken - also lieber mal kein Bierchen. Ich kann aber einen wunderbaren alkoholfreien Wein mitbringen." Dann: "Kennt ihr Seedlip? Ist eine Art Gin oder Rum, kann man beste Cocktails mischen." Die nächste Nachricht: "Kennt ihr das IPA von WellBeing Intentional - alkoholfreies Bier mit Pfirsich- und Ananasnote." Es dauerte nicht lange, schon war der Abend verabredet. Jeder bringt was mit. Alkoholfrei.

Also los auf Einkaufstour: 3208 Sunset Boulevard, Los Angeles. Hier ist "Soft Spirits", der erste Laden in L. A. für spritfreie Spirituosen. Es sieht dort aus wie in einem Hybrid aus Apple Store und Duftkerzen-Shop, bei dem man nicht weiß, ob er wirklich Duftkerzen verkauft oder Wachs gewordenen Geist der Fledermaus oder Geruchsmittel für den handelsüblichen Exorzismus - solche Läden gibt es in L. A. an jeder Straßenecke, einen davon gleich neben Soft Spirits.

Schon äußerlich unterscheiden sich die Flaschen für die neuen alkoholfreien Drinks vom gewohnten Spirituosen-Design. (Foto: Jürgen Schmieder)

Grob ausgedrückt geht es bei der Shoppingtour um drei Kategorien. Die erste: Getränke, die möglichst so schmecken sollen wie die mit Alkohol - das steht dann auch so auf der Flasche, zum Beispiel: Ginish oder Rumish, das englische Suffix "-ish" lässt sich übersetzen mit "-artig". Die Firma Ritual schreibt auf ihre Flaschen "Alternative", wie bei den meisten Anbietern gibt es die Klassiker Gin, Wodka, Rum und Whiskey; oft mit Mocktail-Rezepten auf der Flasche. Neben dem Regal liegt das Buch "Mindful Mixology", eine Anleitung für Null-Promille-Bartender.

"Mocktail" ist der Spitzname für alkoholfreie Cocktails, was ein bisschen despektierlich klingt, weil mock verhöhnen heißt, was zu der logischen Frage führt: Wozu braucht man das? Erste Antwort, und sie erklärt die Explosion auf dem Markt: die Angst, etwas zu verpassen, die im Englischen Fomo abgekürzt wird - Fear of missing out.

Dazu kommt der Placeboeffekt, den der Psychologe G. Alan Marlatt schon Anfang der 1970er-Jahre nachgewiesen hat. Und nirgends ist die Wirkung eindrucksvoller illustriert als in diesem US-Werbespot für alkoholfreies Bier: eine gehobene Bar, ein paar junge und offenbar sehr glückliche Menschen stoßen an - nur der Typ am Ende der Bar wirkt verunsichert; er weiß nicht so recht, was er tun soll, und die Frage wird eingeblendet: "Cheer or No Cheer?" Anstoßen oder nicht?

Der junge Mann denkt nach, offenbar über das große Ganze, denn nun sieht man einen Höhlenmenschen, der nicht zum Rudel gehört, weil sein Krug nur mit Wasser gefüllt ist. Zeitsprung in die Romantik, eine Dame bei Hofe wird mit Argwohn beäugt, sie trinkt Tee. Eilig weiter in die Roaring Twenties, in eine Kneipe: Die Verachtung für den Milchshake-Trinker, sie ist absolut. Schnelldurchlauf zu den Hippie-60ern und den Tech-90ern, die Anti-Alkohol-Person wird schief angesehen. Harter Schnitt in die Gegenwart, und plötzlich ist auch der Typ am Ende der Bar bestens drauf, denn er hält eine Bierflasche in der Hand, natürlich eine mit alkoholfreiem Bier. "Anstoßen ohne Alkohol: kannst du jetzt", so ist zu lesen, und die Botschaft klar: Schaut dich keiner mehr schief an, weil alle denken, dass du genauso trinkst wie sie.

Alkoholfreie Getränke stehen in vielen Bars jetzt im Zentrum und werden nicht länger irgendwo versteckt. Drink der Marke Three Spirit. (Foto: Three Spirit)

Es ist schon interessant, was da mit einem passiert, der mal Alkohol getrunken hat und nun nicht mehr. Das Bierchen zum Fußballspiel, der Chianti zum Carpaccio, der Old Fashioned an der Hotelbar. Das hat mit Geschmack zu tun, aber eben auch mit gesellschaftlichen Koventionen. Man müsste es natürlich nicht, es ist 2022, man kommt sich dennoch ein wenig komisch vor, wenn man zum Carpaccio Cola-Light bestellt oder beim Fußballabend, das Limoglas in der Hand, mit Biertrinkern anstößt. Der US-Schriftsteller John Seabrook hat darüber im New Yorker den grandiosen Essay "An Ex-Drinker's Search for a Sober Buzz" geschrieben: die Suche des Ex-Trinkers nach einem nüchternen Rausch.

Ja, so ist auch im Jahr 2022 noch immer das Verständnis von Trinken: Wer es nicht tut, der muss begründen, warum. Aber sollte es nicht andersherum sein? Genau diese Frage stößt den gesellschaftlichen Wandel an, der auch die Getränkekarten verändert; alkoholfreie Getränke stehen in vielen Bars jetzt im Zentrum und werden nicht länger in der Ecke versteckt.

Kurze kapitalismuskritische Zwischenfrage: Warum sind Mocktails genau so teuer wie Cocktails? Die alkoholfreien Klassiker Sherley Temple (Orangen- und Grenadinensaft, Sprite), Blood Orange Mojito (Blutorangensanft, Limette, Minze, Zucker, Sprudel) und Melon Margarita (Melonen- und Limettensaft, Agave, Jalapeno, Sprudel), sie alle sind doch nur: Säfte und Softdrinks.

Moderne Abstinenzler verfügen über Kaufkraft

Genau darüber reden sie auch bei der Innovation in Non-Alcoholic Beverages Conference (INABC) in London, an der man auch virtuell teilnehmen kann. Dean Durkin, im American Club in Singapur für die Getränkekarte zuständig, sagt da zum Beispiel: "Die Leute wollen nicht das fade alte Softdrink-Gemisch; sie verlangen Kreativität, Komplexität und beste Zutaten." Die Kernthese auf der Konferenz ist: Moderne Abstinenzler verfügen über Kaufkraft, und sie sind bereit, für nicht-alkoholische Cocktails in etwa den gleichen Preis zu zahlen - aber sie wissen, dass dafür mehr nötig ist als Saft-Softdrink-Geplörre. Das bedeutet: Bartender müssen kreativ sein, und sie sollten bestenfalls ein paar der Getränke haben, die man im "Soft Spirits"-Supermarkt von L. A. kaufen kann. Dort kostet übrigens keine Flasche unter 25 Dollar, also in etwa Spirituosenpreisniveau. Nach oben gibt es, wie bei Spirituosen, keine Grenze.

Schon 1972 schrieb der britische Schriftsteller Kingsley Amis in seinem Buch "One Drink": "Ein guter Drink ist mühsam und teuer, so wie jede Sache, die es wirklich wert ist, sie herzustellen, von Gedicht bis Auto." Das haben nun auch die Spirituosenfirmen erkannt: Der weltweit zweitgrößte Spirituosenkonzern Pernod Ricard stieg 2021 bei Ceder's ein - einem Hersteller nicht-alkoholischer Getränke, der von Craig Hutchison und dessen Frau Maria Sehlstrom gegründet wurde.

Hutchison sagt auf der Londoner Konferenz: "Der Preis ist in dieser jungen Branche ein Indikator für Qualität." Ja, die Margen seien hoch derzeit; "aber die braucht es, um weiter forschen und die Leute überzeugen zu können". Das sei ähnlich wie beim Elektroautobauer Tesla, wo über die teuren E-Fahrzeuge die Forschung an günstigeren Modellen finanziert wird, die Benziner ersetzen sollen. Er glaube, so Hutchison, "dass wir erleben werden, dass nicht-alkoholische Spirituosen einen größeren Marktanteil haben als alkoholische."

Viele Hersteller berichten auf dieser Konferenz, dass die Produktion ihrer Produkte mindestens so teuer sei wie die Herstellung von Alkohol - oder aufwendiger, weil erst das alkoholische Getränk produziert und in weiteren Schritten der Alkohol entfernt wird. Ein zusätzlicher Schritt erzeuge eben zusätzliche Kosten, zumal häufig noch weitere teure Zutaten hinzugefügt würden. Craig Hutchison und Ehefrau Maria Sehlstrom beispielsweise haben das alkoholfreie Getränk Maria's & Craig's im Sortiment, dem der entkrampfende, aber nicht berauschende Hanfextrakt CBD beigefügt ist, der in Deutschland als Arznei zugelassen ist. Hutchison sagt: "Man könnte sagen: Ja, sie haben den Alkohol entfernt. Man könnte aber auch sagen: Sie haben ein paar gesunde Dinge hinzugefügt."

Ein Fest für den Geschmackssinn: Ingredienzen des Herstellers Rasāsvāda. (Foto: Rasasvada)

Das führt zu der zweiten Getränkekategorie: jenen ohne berauschenden Effekt, die eher bekannt sind für Geschmack und Gesundheit; der Aperitif Ghia etwa, Inhalt laut Hersteller: Riesling-Traubensaft-Konzentrat, Extrakte aus Feige, Enzianwurzel, Zitronenbalsam, Rosmarin, Orangenschale, Holunder, Ingwer - und Yuzusaft. Kann man pur auf Eis trinken oder mit Grapefruitsaft und Tonic Water zum Cocktail Flower Power mischen; kommt aufgrund der Zutaten ziemlich gesund daher, hat aber keinen berauschenden Effekt. In diesem Marktsegment gibt es Dutzende Firmen wie Figlia, Melati, Caleno, und ihre Etiketten wecken Erinnerungen an die Duftkerzen-Fledermaus-Exorzismus-Läden.

Die Zielgruppe für solche Getränke tickt aber anders als die für Fake Alkohol: Der wird vor allem von Leuten gekauft, die das Trinken aufgegeben haben, sich aber etwas gönnen wollen, das sie an ihr Lieblingsbier, ihren Lieblingswein oder -Cocktail erinnert. Die zweite Gruppe dagegen besteht vor allem aus Jüngeren und aus Leuten, die niemals Alkohol getrunken haben.

Und was will die dritte Zielgruppe? "Als ich studierte, nahmen die Leute Drogen, um aus dem Leben auszuchecken", sagt Anjan Chatterjee, Leiter der neurologischen Fakultät an der University of Pennsylvania: "Heute nehmen sie Drogen, um erst so richtig einzuchecken. Das sagt doch was über unsere Kultur aus." Soll heißen: Bis vor wenigen Jahren war es akzeptabel, sich im Büro einen Drink zu genehmigen oder angetüdelt zum Meeting zu erscheinen; den Spruch "Wirtschaft wird an der Bar gemacht" gebe es ja nicht zufällig. Heute, so Chatterjee, verhalte sich das komplett anders; gerade junge Leute seien nicht mehr unbedingt auf der Suche nach Zeug, das einen Rausch erzeugt - sondern eher nach Hilfsmitteln, die dafür sorgen, mehr leisten zu können, gesünder zu sein und sich besser zu fühlen. "Leute glauben, dass sie etwas über ihre Fähigkeiten hinaus leisten müssen, um was zu erreichen", sagt Chatterjee. Dazu diene auch die Wahl der Getränke.

Lieber Cannabis als Alkohol, sagen zwei Drittel der 18- bis 24-Jährigen

Die dritte Gruppe greift deshalb zu Drinks, die eine Wirkung versprechen oder andeuten: entspannend, euphorisierend, beruhigend, gut für Verdauung, Schlaf und Konzentration. Die Zutaten sind: Kräuter und Aminosäuren. Bonbuz, Three Spirit und Rasāsvāda heißen die drei schon erwähnten Hersteller; sonst gibt es nicht besonders viele. Es heißt, dass es in den USA nicht mehr lange dauern wird, bis der in Magic Mushrooms enthaltene, bewusstseinserweiternde Wirkstoff Psilocybin zuerst als Arznei und danach als Genussmittel legalisiert wird.

Mit Magic-Mushroom-Getränken könnte dann das passieren, was in den vergangenen Jahren mit den Marihuana-Nebenprodukten passiert ist: Es gibt sie als Brownies, Öle und Gummibärchen. Einer Studie der Analysefirma New Frontier Data zufolge ziehen mehr als zwei Drittel der 18- bis 24-Jährigen Cannabis als Rauschmittel dem Alkohol vor, zehn Prozent haben in den sechs Monaten vor der Umfrage mit Psilocybin experimentiert. Das gilt vielen als der Megawachstumsmarkt, in den man jetzt investiert und Produkte kreiert, um sie in ein paar Jahren auf den Markt zu bringen, wenn sie legalisiert sind.

Der Abend mit Freunden, das Experiment an der Hausbar, geht zu Ende; als Absacker gibt es Nightcap von Three Spirit mit Ashwaghandawurzel, Silberweidenrunde, Baldrianwurzel für Entspannung und süße Träume. Auch das funktioniert. Aber liegt das nun wirklich am Getränk oder am Placeboeffekt? So viel ist jedenfalls sicher: Die Debatten werden nie hitzig, es gibt weder Streit noch Aggression. Und am nächsten Morgen keinen Kater.

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