Algorithmen:Kontinent der Zahlen

Lesezeit: 9 Min.

In Amerika sind Algorithmen das neue Gold. Wer die richtige mathematische Gleichung findet, wird reich - weil er ein Stück Zukunft gefunden hat. Ganz egal, wie lange diese Zukunft dann ihre Gültigkeit behält.

Von Johannes Boie

Zwei junge Frauen stehen auf einer Bühne im Scheinwerferlicht. Der Raum vor ihnen ist abgedunkelt. "Wir sind das Team Casino Loyale", sagt Kelsey Hoak. Sie lächelt wegen der kleinen Anspielung auf den James -Bond-Film "Casino Royale". Sie lächelt, aber sie lacht nicht. Vor ihnen können sie den Umriss von William Crowder sehen, ein Risikokapitalgeber. Crowder sitzt im Dunkel des Raums und als ein Mann aus New York City sitzt er auch im Nichts, in Athens, Ohio, nämlich, einer Kleinstadt die nichts wäre, wenn es hier nicht die Ohio University gebe. Nicht die allerbeste Universität der USA, aber eine Universität, die ihren Journalismusstudenten plötzlich aufgibt, sich Geschäftsideen auszudenken. Die Studenten sind jung hier, keine 25 Jahre alt, digitale Generation.

Hoak hat sich mit vier Kommilitonen ein Treue- und Prämienprogramm ausgedacht. "Der durchschnittliche amerikanische Haushalt hat schon 22 davon", säuselt sie. "Wir fragen uns - warum nicht noch ein 23. Programm? Und wenigstens eines, das digital funktioniert."

Ihre Idee soll dem Verlag E.W. Scripps, der 21 TV-Sender und Zeitungen quer durch die USA besitzt, wieder auf die Beine helfen. Das alte Geschäft leidet. Das Digitale läuft noch nicht. Die Innovation muss von außen kommen, von den Jungen. Aus dem Netz. Algorithmen müssen das Geschäft mit den Buchstaben retten, so viel ist klar. Aber was genau? Wer Journalismus aus dem Verlag konsumiert, auf Webseiten oder im Videostream, soll künftig Punkte sammeln, für die es dann wiederum Produkte gibt. Das ist die Idee der Studentinnen: Was im Analogen gut funktioniert, wird im Digitalen auch funktionieren. Mehr noch: es wird besser, schneller, präziser. Casino Loyale, eben.

Das Hauptgeschäft werden Daten sein

Im Dunkeln kann man Crowder lächeln sehen. 5000 Dollar für die Studentinnen, mal sehen, was sie draus machen.

Mal sehen auch, wann sie bemerkt, dass in ihrer Idee auch die Erfindung steckt, die Mediennutzung jedes ihrer Kunden zu überwachen und zu speichern. Mal sehen, wann sie begreift, dass ihr Hauptgeschäft nicht Bonuspunkte sein werden, sondern Daten. Im Casino Loyale wird früher oder später um das Verhalten Menschen gespielt werden: Wer liest wann was? Wer schaut wann welches Video? Warum? Was sagt uns das über die Person? Merkt das jemand? Stört das niemand? Großer Applaus. Große Freude, Freudentränen. Ernstes Foto für die Facebook-Seite der Uni auf der Bühne mit dem Dekan, Fun-Foto für die Facebook-Seiten der Freunde vor der Bühne. Und dann: Das nächste Team. Eine indischstämmige Studentin und ihr iranischer Kommilitonen wollen alle Twitternutzer und deren Botschaften überwachen, um zu berechnen, mit welchen Worten man der Masse am besten etwas verkaufen kann. Ihre Präsentation ist bunt und klar: Worte werden zu Zahlen, Zahlen wieder zu Worte. Die Berechnung der Nutzer verspricht Umsatz.

Die Studentin verkauft die Idee als hätte sie niemals etwas anderes getan, ihr Freund programmiert die linguistische Hightech-Software. Er sagt kein Wort, er arbeitet lieber mit Worten anderer Menschen, ein Nerd, der Algorithmen nutzt um Gehirne zu verstehen. Und wer Gehirne versteht, kann ihnen Produkte verkaufen.

Crowder steht wieder auf und klatscht und klatscht und klatscht. Das Licht geht an. 10 000 Dollar für diese Idee. Mehr Daten, mehr Analyse, mehr Umsatz. Das ist Ohio, hier sei im Grunde nichts, sagt man an den amerikanischen Küsten gerne ein wenig hochnäsig, jedenfalls nicht viel. Crowder wusste es besser, und die Summen, um die es hier geht, dafür gibt's in New York gerade mal ein schönes Abendessen mit seinen Partnern. Aber natürlich geht noch mehr. Und zwar nicht nur an den Küsten, wie man sehen wird.

Es gibt Orte in Amerika, die haben sich in 200, 300, ach was, in 10 000 Jahren nicht verändert. Sanft gleitet der Wagen auf dieser Reise durch die Sumpfgebiete Floridas, die goldenen Hügel Nordkaliforniens, die saftig-grünen Wiesen Kentuckys, die breiten Highways von Texas, an deren Rand gefesselte Gefangene die Straße ausbessern. Uralte Landschaften, ab und an nur eine Hütte, da leben Menschen off the grid, nicht erfasst von Behörden, Sozialversicherungen, Regierungen, Wählerverzeichnissen. Der Rest aber, zumal die jüngeren, der lebt im Netz.

Während dieser Reise kündigt Amazon an, Pläne umzusetzen, nach denen man Kunden künftig Produkte schicke, die sie zwar nicht bestellt haben, aber sehr wahrscheinlich haben wollen. Das Angebot ist schneller als die Nachfrage, die Grundlagen der Marktwirtschaft bekommen ein digitales Update. Der Händler weiß, was der Kunde will, weil der Algorithmus es berechnet hat. Die Zukunft wird berechnet.

Schon vor zwei Jahren schickt die amerikanische Supermarkt-Kette Target einer Familie in Minnesota Gutscheine für Schwangerschaftsprodukte, weil sich das Kaufverhalten der jungen Tochter in einer für Schwangeren typischen Art geändert hatte. Die Familie wusste von nichts, der Computer alles. Die Frau war schwanger. Die Gegenwart wird berechnet.

Wer kann, berechnet alles

Illustration: Christian Tönsmann (Foto: N/A)

Und schließlich wird auch die Vergangenheit ausgewertet. Bilder, Videos, sogar Gemälde enthalten Informationen, die erst jetzt, da die Technik besser wird, langsam ausgelesen werden können. Zahlreiche Experimente zeigen, dass Online-Unternehmen vor ihren Kunden wissen, wann diese ihr Leben verändern werden. Wann sie sich trennen, heiraten, vielleicht sogar, wann sie sterben. Von den Geheimdiensten ganz zu schweigen.

Kurzum: Wer kann, berechnet alles. Erstens, weil es sonst jemand anderes berechnet, schließlich herrscht Wettbewerb. Und zweitens, weil es geht. Denn wer sich einmal anders entscheidet als es ein Computer vorgibt, und dabei einen Fehler macht, der lässt künftig die Maschine entscheiden. Der Druck ist hoch.

Ein Community College im Süden von Los Angeles. Hier lernen die, die es nicht geschafft haben, jene, zu denen das Leben nicht fair war. Von der Decke hängen Kabel, die Wände schimmeln. Draußen ballern die Gangs, drinnen wird gelernt. Ein alter , liebevoller Journalismus-Professor namens Robert Mercer ist Lehrer und Ersatzvater. Eine Schulküche dient ihm als Büro. Er lacht darüber: "Wenn du die Hitze des Journalismus nicht erträgst, geh nicht in die Küche."

"Wovon träumt ihr eigentlich?", feuert der alte Professor seine Studenten an. Ein dicker junger Mann ist der erste: "Programmierer", sagt er, "I wanna code." Dr. Dre, der Star aus dieser Gegend hier, veränderte vielleicht den Hip-Hop, aber Mark Zuckerberg veränderte die Welt. Oder, um es mal so zu formulieren, wie William Crowder es sagen würde: Gute Geschäftsideen skalieren global. Das ist heute das Ziel für jeden guten amerikanischen Studenten.

Der Weg aus dem Ghetto führt jetzt nicht mehr nach Beverly Hills oder Bel Air, er führt jetzt weiter, noch viel weiter in den Norden. Immer die große Traumstraße entlang, U.S. Highway 101, links Pazifik, rechts Palmen, Hügel, Weinstöcke.

600 Kilometer und ein paar Kreuzungen später ist da ein kleines, nicht uncharmantes Kaff. Palo Alto hat keine Skyline und kein Downtown. Erst nach einer Weile offenbaren sich die kleinen Unterschiede. Die Frisörin an der Ecke ist heute Millionärin, weil sie, kaum dass sie vor 50 Jahren aus China eingewandert war, mit ihrer Schwester ein kleines Haus gekauft hatte. Der Autohändler gegenüber wiederum verkauft nur McLaren Supersportwagen.

Ein paar Wochen zuvor beginnt ein junger Anwalt aus Washington D.C. in der zwölften Reihe eines Canadair Regional Jet ein Gespräch. "Journalist sind Sie?", sagt er, "gibt's das noch?" Der Anwalt ist spezialisiert. "Sehen Sie, die Startups, gerade die aus Kalifornien, die benötigen oft andere Gesetze", sagt er. "Nicht jede Geschäftsidee ist legal. Sollte man sie deshalb gleich verwerfen?" Kunstpause, Schluck aus der Wasserflasche. "Wir finden, man sollte lieber die Gesetze ändern." Die Norm schafft der Programmierer. Alles andere kann geändert werden. Erst der Programmcode, dann der Gesetzestext.

So ist es dann auch. Wer im Silicon Valley arbeitet, stellt täglich zwei Fragen: Kann ich etwas besser machen? Und kann ich damit Geld verdienen? Jede Idee wird probiert, sie nennen das hier fast failing. Während ein Deutscher 15 Seiten Business-Plan schreibt, hat ein Amerikaner sein Startup schon gegründet, finanziert und vor die Wand gefahren, mit der Lässigkeit von Jay-Z: On to the next one.

Bei Facebook haben sie aus genau diesem Grund in ihre Zentrale im ehemaligen Firmengebäude von Sun Microsystems, Garagen eingebaut. Der Gründergeist soll am Leben bleiben. Hier, oder in der Druckerei. Oder in der Werkstatt. Oder dem Fahrradverleih. Alles Faktoren auf einem Gelände, das wie ein Programm funktioniert. Steckt man vorne Entwickler rein, kommen hinten Ideen heraus. Herzstück ist eine nagelneue Wand aus Monitoren, auf der in Echtzeit alles, was auf Facebook gerade so passiert, in Grafiken angezeigt werden. Man müsste nicht viele Zeilen im Code dieser Tafel ändern, um anzuzeigen, wer gerade seinen Partner betrügt oder wer gerade über den Kauf eines Autos nachdenkt.

"Wir ermutigen unsere Mitarbeiter, kreativ zu sein", untertreibt die Pressefrau, der es schwerfällt, eben nicht mit dem Finger auf Mark Zuckerberg zu zeigen, der während des kurzen Spaziergangs auf dem Firmengelände drei Mal an ihr vorbei läuft, sein Geist in Gedanken, sein Körper in einem zu großen Shirt versunken. Gelöst haben sie hier nebenbei vieles, das in Deutschland auf dem Niveau des 20. Jahrhunderts diskutiert wird. Früher kommen, später gehen, Frauenförderung, Schwangerschaften, alles Teil des Firmencodes.

Ein Remix aus Goldrausch und Atomzeitalter

Es ist ja nicht so, dass Amerika zum ersten Mal einem Rausch verfallen wäre. Was gerade passiert, ist ein Remix aus Goldrausch und dem Beginn des Atomzeitalters. Wir werden alle reich! Und: Wir haben die Technologie der Zukunft gefunden! Der richtigen Algorithmus macht reich wie ein Goldnugget und ist mächtig wie eine Atombombe.

Das hat viele gute Seiten. Online-Universitäten machen es möglich, dass indische Kinder an amerikanischen Unis studieren, ohne Visum, und nur mit wenig Geld. Westliche Werte verbreiten sich rund um den Erdball. Ärzte diagnostizieren Krankheiten übers Internet. Regierungen werden dank der neuen Technik transparenter. Der Wohlstand steigt. Die Liste ist, tatsächlich, unendlich. Facebook und Google sind nur Vorbilder, die Euphorie hat sich längst mit dem guten, alten, uramerikanischen Leistungsgedanken vermischt.

Der ehemalige Bürgermeister von Omaha, Nebraska, erzählte früher gerne, seine Stadt liege im Falz des Atlanten. Eine kleine Anspielung auf die eher bescheidene Bedeutung der Stadt. Heute funktioniert der Witz nicht mehr, weil niemand mehr einen Atlas verwendet. Heute kann man auch hier aus dem Flugzeug steigen und sich wie im Silicon Valley fühlen.

Todd Johnson zum Beispiel sitzt in einem Konferenzraum, er blickt auf den Missouri River, der Nebraska von Iowa trennt. Vor dem Firmengelände fährt ein Mann auf einem viel zu lauten Rasenmäher. "Der letzte hat die Fenster eingefahren", sagt Johnson, "der hat nur einmal bei uns Rasen gemäht." Johnson kennt sich aus mit Hire und Fire, er ist der Chef der "Job Creation"-Einheit bei Gallup. Das Unternehmen ist vor allem für Umfragen bekannt, tatsächlich verdient es aber mit Unternehmens- und Politikberatung sein Geld.

"Zum ersten Mal seit 35 Jahren werden in den USA weniger Unternehmen gegründet als geschlossen", sagt Johnson. 400 000 neue gibt es jährlich, 470 000 gehen ein. Bei Gallup sagen sie: Die USA benötigen eine Million erfolgreiche Startups, um eine globale Wirtschaftsmacht zu bleiben. In digitalen Startups entstehen 65 Prozent aller neuen Arbeitsplätze.

Draußen fährt der Rasenmähermann so nah ans Fenster, dass die Scheiben zittern. Wenn das so weitergeht, muss der Fahrer auch bald in einem Startup arbeiten.

Das Problem sei nun, sagt Johnson, dass die Förderungen für Startups, die Milliarden der Risikokapitalgeber, die Millionen der Regierung, vollkommen verschwendet seien. Nur fünf von 1000 arbeitenden Amerikanern zeichneten sich durch großes unternehmerisches Talent aus: Vier Mal wahrscheinlicher, dass solche Menschen Jobs schaffen. Drei mal wahrscheinlicher, dass ihr Unternehmen richtig groß wird.

Genau diese Menschen will Johnson finden. Gallup hat dafür ein Testprogramm entwickelt. Die mexikanische Regierung überlegt, alle Teenager im kommenden Jahr damit zu prüfen. Buch und Webseite des "Entrepreneurial Strengthsfinder" stehen seit Monaten auf amerikanischen Bestsellerlisten. Das Programm ist einer der größten Erfolge in der 45-jährigen Geschichte von Gallup. Jeder möchte wissen, wie gut er ins digitale System passt.

Ausgerechnet hier, im Falz des Atlanten, ist die ultimative Metaebene der amerikanischen Zahlenwelt zu finden. Die Startups mögen das Leben der Menschen berechnen, Todd Johnson berechnet die Startups. Wie ein besonders guter Algorithmus, der sich andauernd selbst verbessert. Dann wird es Abend in Omaha. Ein Anruf im Kino. "Haben Sie auf? Google sagt, bei Ihnen sei zu." - "Jesus", flucht der Kinomanager am Telefon und entschuldigt sich sofort dafür, man ist schließlich in Omaha. Die Schuld liegt nicht bei Gott, die Schuld liegt bei Google, denn Google zeigt an, dass das Kino geschlossen habe. Hat es aber nicht. "Unser Umsatz bricht ein", sagt der Mann. "Wir korrigieren unsere Öffnungszeiten, aber wir kommen nicht hinterher."

Unter amerikanischen Unternehmensbesitzern ist es ein Sport geworden, der Konkurrenz auf Google falsche Öffnungszeiten zu verpassen. Wenn die Angaben im Netz nicht mehr mit den Fakten draußen übereinstimmen, kommt es zum Absturz: Fehlermeldung beim Kunden. Der kommt nicht wieder. Erste Unternehmen gehen deshalb pleite, manche klagen.

Sie klagen vor Gericht, aber sie klagen auch über ein System, das sie nicht abschaffen können. Dieses System kommt aus der Wirtschaft, es ist politisch, ohne politisch legitimiert zu sein. Google steht nicht zur Wahl. Die Gegenwart steht nicht zu Wahl.

Wirklich nicht? "AT&T war wie Google lange Jahre Monopolist und machte viele tolle Erfindungen", sagt Ben Edelman, "trotzdem musste der Konzern irgendwann zerteilt werden. Dadurch entstand das Internet. Was würde entstehen, wenn wir Google aufbrechen?"

Edelman, ein Harvard-Nachwuchsstar, der die Ökonomie des Netzes untersucht, sitzt in kurzen Hosen auf seiner Veranda in einem Vorort von Boston. Er hat viele Ideen, wie das digitale Amerika ein Amerika für alle werden könnte. Wie die großartigen Ideen aus dem Silicon Valley an geltende Gesetz angepasst werden könnten. Für Privatsphäre, für Rechtssicherheit, für Wettbewerb. Große Hoffnung hat er nicht. "Die jungen Rechtsspezialisten, die im Kapitol arbeiten, die sehen die Probleme überhaupt nicht mehr", sagt er. Sie seien schlicht zu jung, murmelt er - und klingt plötzlich sehr alt und sehr müde: "Die sind doch alle mit Google aufgewachsen."

© SZ vom 19.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: