Süddeutsche Zeitung

Geldanlage:Die Streaming-Party geht zu Ende

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Kochboxen, Videotelefonie, Filmdienste: Sie alle erlebten im vergangenen Jahr an der Börse einen Corona-Boom. Nun zeigen sich die Anleger plötzlich verschreckt.

Von Victor Gojdka, Frankfurt

Wenn die Serien beim Filmeanbieter Netflix für etwas bekannt sind, dann für ihre plötzlichen Plot-Twists. Wendet sich binnen Minuten die gesamte Erzählung, sitzen die Zuschauer umso gebannter auf dem Sofa. An der Börse sorgte Netflix im April allerdings für einen Plot-Twist in eigener Sache: Aus dem Überflieger in der Pandemie wurde binnen Minuten ein Stiefkind. In einer eher spröden Mitteilung musste das Unternehmen schließlich eingestehen, dass der Corona-Boom nun verpuffen dürfte: Zwischen April und Juni erwartet das Unternehmen weltweit nur noch eine Million neue Nutzer. Zum Vergleich: Mit dem Beginn der Corona-Pandemie legten sich im ersten Quartal 2020 knapp 16 Millionen Menschen ein Abo zu.

Die Nachricht von Netflix schockte auch Privatanleger hierzulande: Viele von ihnen hatten im vergangenen Jahr an der Börse auf die Profiteure der Pandemie gesetzt, deren Aktienkurse scheinbar keine Grenzen kannten. Sie alle sind plötzlich mit einer unangenehmen Frage konfrontiert: Was passiert mit den hochgejubelten Zuhausebleiber-Aktien, wenn die Menschen wieder rausgehen? Die SZ hat Analystenerwartungen zusammengestellt.

Freizeit-Aktien

Runter von der Couch: Während in den USA mancherorts wieder die Kinos öffnen, schwindet die Attraktivität von Filmportalen wie Netflix. "Die Streaming-Party in der Pandemie geht zu Ende", sagt Analyst Paolo Pescatore von PP Foresight. Dazu kommen Produktionsausfälle in der Pandemie und eine immer schärfere Konkurrenz, vor allem vom Streaming-Dienst Disney Plus. Im Schnitt billigen Analysten Netflix beim Aktienkurs jedoch noch 20 Prozent Luft nach oben zu, so zeigt es eine Auswertung des Datenanbieters Refinitiv. Manche Anleger setzen dennoch lieber auf den Konkurrenten Disney: Der hat nicht nur den Streaming-Dienst Disney Plus im Portfolio, sondern auch Freizeitparks, die von Öffnungen weltweit profitieren dürften.

Home-Office-Aktien

Schon ein Klick reicht: Wer im Home-Office Probleme mit dem Laptop hat, kann den IT-Kollegen Zugriff auf den eigenen Mauszeiger geben. Technisch macht das oft die schwäbische Firma Teamviewer mit ihrer Software möglich. Als Firmen ihren Mitarbeitern im vergangenen Jahr millionenfach Laptops in die Hand drückten, brummte das Geschäft. Die Aktie schoss in der Spitze von knapp 30 auf über 50 Euro in die Höhe. "Viele Firmen haben sich bereits im Frühjahr für die neue Situation gerüstet", sagt Daniel Großjohann vom Analysehaus Equits, "danach war das Thema schnell erledigt."

Die Aktie tendierte eine Weile seitwärts, bis das Unternehmen vor einigen Wochen patzte: Werbung auf den T-Shirts der Fußballer von Manchester United ließ man sich so viele Millionen kosten, dass das Management sogar den eigenen Finanzausblick senken musste - und viele Anleger verschreckte. Elf von 15 notorisch optimistischen Aktienanalysten raten dennoch zum Kauf und glauben im Schnitt, dass die Aktie wieder auf rund 50 Euro steigen könnte. Selbst wenn die Menschen nicht mehr so häufig im Home-Office arbeiten, dürften sie die Laptops der Firma schließlich behalten - und die Firmen weiter ihre Lizenzgebühren an Teamviewer zahlen. Mittelfristig wollen die Schwaben das große Geld sowieso mit intelligenten Videobrillen verdienen: Mit ihnen könnten Techniker in Fabriken Maschinen warten und Anweisungen aus der Ferne geben. "Das ist der eigentliche Charme der Aktie", sagt Analyst Großjohann.

Auch der Videotelefonie-Anbieter Zoom war in der Pandemie gesucht, hier rät jedoch nicht einmal mehr jeder zweite Analyst zum Kauf - und das, obwohl Zoomen inzwischen zum Gattungsbegriff für Videotelefonate geworden ist. Während der Umsatz des Unternehmens im vergangenen Jahr um 326 Prozent zulegte, dürfte er dieses Jahr nur noch um 43 Prozent steigen. Nach dem "Zoom Boom" sprechen Experten nun von "Zoom-Müdigkeit": Erst kürzlich wies die Chefin der Citibank ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an, freitags keine Videokonferenzen mehr anzusetzen.

Essensdienste

In der Pandemie wurde es zum Erfolgsrezept: Kunden lassen sich Kochzutaten samt passender Rezepte an die Haustür liefern. Dem Berliner Kochboxen-Versender Hellofresh hat dieses Geschäftsmodell in der Pandemie einen Kurssprung von knapp 20 Euro auf in der Spitze rund 77 Euro eingebracht. Bei aktuell 71 Euro sehen Analysten im Schnitt rund 20 Prozent Potenzial nach oben. Die Überlegung? Sind die Kunden erst einmal auf den Geschmack gekommen, dürften sie auch weiter ihre Rezepte online ordern. Auch Hellofresh selbst rechnet in seiner Prognose mit einem Umsatzsprung von 35 bis 45 Prozent in diesem Jahr, wenn Anleger Währungsschwankungen unter den Tisch fallen lassen.

Doch unter den Analysten regt sich immer mehr Kritik: Drei Aktienexperten raten inzwischen zum Verkauf. "Im zweiten Halbjahr dürfte sich Hellofresh beweisen müssen", sagt Fondsmanager Frank Rothauge von AHP Capital Management. Gerade Kochanfänger könnten weniger Lust auf die Boxen haben, wenn Restaurants wieder ihre Tische decken. In den Beneluxländern verkauft Hellofresh deswegen als Ergänzung jetzt auch 70 einzelne Lebensmittel wie Backwaren und Desserts über seine Plattform.

Den Essenslieferanten Delivery Hero sollten Anleger übrigens nicht in denselben Topf werfen: Er liefert das fertige Essen von Restaurants aus und profitierte ebenfalls vom Lieferboom in Corona-Zeiten, so schoss die Aktie von 70 Euro Anfang 2020 in der Spitze auf 135 Euro. Manche Beobachter sorgen sich aber vor der immer schärfer werdenden Konkurrenz auf dem Liefermarkt. Die Folge: In manchen Ländern können Lieferdienste von den Restaurants nicht mehr so viel Provision kassieren. Entsprechend sehen auch die Analysten bei dem Papier im Schnitt nur noch knapp 15 Prozent Luft nach oben.

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