In kaum einen Wirtschaftssektor fließen so viele Fördermittel wie in die Landwirtschaft. Gut 60 Milliarden Euro verteilt die EU derzeit pro Jahr an ihre Mitgliedsländer, etwa ein Zehntel davon geht an deutsche Erzeuger. Ob das auch in den kommenden Jahren so bleibt, ist allerdings fraglich. Auf EU-Ebene wird derzeit hart um das Budget für die nächste Förderperiode gestritten, die Anfang 2021 beginnt. Mit dem am Mittwoch in Berlin vorgelegten Agrar-Atlas 2019 (hier als PDF) fordern Naturschützer, dass das Geld anders verteilt wird als bisher.
Hubert Weiger, Vorsitzender des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND), will ein radikales Umsteuern vor allem bei der milliardenschweren EU-Förderung: "Wir brauchen das Geld für das Lebenserhaltende und nicht für das Lebensgefährdende." Es gebe gegen ein Umsteuern erhebliche, aber verdeckte Widerstände, warnte er. "Sie werden nicht offen artikuliert, sind aber sehr einflussreich und sitzen konzentriert im Bundeslandwirtschaftsministerium." Den Widerstand gegen eine neue Agrarpolitik spüre er auch in den Spitzenverbänden der Landwirtschaft. Zudem gewännen Futtermittelhersteller an Einfluss. "An der Landwirtschaft wird inzwischen mehr verdient als in der Landwirtschaft", sagte Weiger. Veröffentlicht wurde der Agrar-Atlas vom BUND, der Zeitung Le Monde Diplomatique sowie der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung.
Ginge es nach dem Willen der Bürger, sähe die Landwirtschaft in der EU in ein paar Jahren vermutlich anders aus als heute. Das zeigt eine repräsentative Forsa-Umfrage für den Agrar-Atlas. Die Hälfte der Befragten findet, dass Betriebe zusätzlich honoriert werden sollten, wenn sie besondere Leistungen für Umwelt-, Wasser- und Naturschutz erbringen. Drei Viertel finden es außerdem wichtig, dass mittlere und kleine Betriebe besonders unterstützt werden. Immerhin 76 Prozent der Befragten gaben an, dass sie das Höfesterben in Deutschland als großes Problem sehen.
Laut Bundesregierung ist die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland seit 2010 um fast 24 000 auf 275 000 gesunken. Besonders stark war der Rückgang zuletzt in Bayern. Vor allem kleinere Höfe gaben auf, während die Zahl der Großproduzenten zunahm.
Die Macher des Agrar-Atlas fordern vor allem ein Umsteuern bei der Verteilung der Mittel. Sie kritisieren, dass 70 Prozent der EU-Mittel ohne weitreichende Auflagen verteilt werden. Derzeit gelte: Wer viel Land bewirtschaftet, bekommt auch viel Geld. An diesen Direktzahlungen will der Deutsche Bauernverband auch unbedingt festhalten. Nur 25 Prozent der Mittel sind dagegen an Bedingungen geknüpft. Sie fließen in benachteiligte Regionen, in den Ökolandbau sowie in Leistungen zum Schutz von Klima, Umwelt und Natur. Der BUND-Vorsitzende Weiger fordert: "Fördergelder müssen für das ausgegeben werden, wofür Erzeuger kein Geld am Markt bekommen: Die artgerechte Haltung von Tieren, der Schutz von Vögeln und Insekten, von Gewässern und des Trinkwassers."
Die EU-Länder dagegen wollen nach jetzigem Stand bei der anstehenden Agrarreform am bisherigen Fördersystem festhalten und offenbar die Auflagen für zusätzliche Leistungen, zum Beispiel für Umweltschutz, sogar noch aufweichen. Das geht aus einem Entwurf hervor, den der EU-Rat vor einigen Wochen den Ländern zukommen ließ.
In ganz Europa geht die Artenvielfalt verloren. Eine Entwicklung, die auch eine Folge der immer intensiveren Landwirtschaft ist. Deutschland ist da keine Ausnahme, laut Agrar-Atlas ist hier die Biomasse der Insekten seit 1990 um mehr als 75 Prozent zurückgegangen. Das wiederum schadet auch der Landwirtschaft. Fehlen den Blüten die Bestäuber, bedeutet das weniger Ertrag etwa bei der Apfelernte, aber auch bei Sonnenblumen und Ackerbohnen. Alarmierend ist aus Sicht von Umweltschützern, dass knapp 13 Prozent der für die Biodiversität wichtigen Landwirtschaftsflächen, etwa blütenreiche Wiesen, innerhalb von sechs Jahren verloren gingen.
Umweltschützer fordern deshalb mehr finanzielle Anreize für Landwirte, um die Artenvielfalt zu schützen. Um jedoch wirksam gegenzusteuern, fehle es nicht nur an Geld und präziseren Programmen, sondern vor allem an Einsicht, heißt es im Agrar-Atlas.
Pestizide sind auch wesentlich für den Verlust der Artenvielfalt mitverantwortlich. Zuletzt gab es heftigen Streit um die Auswirkungen des Pflanzengifts Glyphosat und bienenschädlicher Neonicotinoide.
Während Pestizide in der Ökolandwirtschaft weitgehend verboten sind, wollen viele konventionelle Landwirte nicht darauf verzichten. Die Mittel sind ein Milliardengeschäft für Hersteller wie Bayer und BASF. Europaweit sind die Einsatzmengen insgesamt seit Jahren nahezu konstant. Jedoch gibt es große Unterschiede zwischen den Ländern: In Spanien und Frankreich wurde zuletzt mehr verkauft, in Deutschland gingen die Verkäufe zwischen 2011 und 2016 dagegen deutlich zurück. "Der gemeinsamen Agrarpolitik fehlen Instrumente, um den Einsatz von Pestiziden deutlich zu verringern", heißt es im Agrar-Atlas. Auch gebe es zu viele Ausnahmen, mit denen sich ein Einsatzverbot umgehen lasse.
In der Tierhaltung liegen Wunsch und Wirklichkeit weit auseinander, zumindest aus Sicht vieler Verbraucher, zeigen Umfragen. Gut 40 Prozent von ihnen wünschen sich bessere Standards in der Tierhaltung und einen schonenderen Umgang mit Ressourcen. Trotzdem sind nach wie vor viele Quälereien erlaubt, über deren Abschaffung in Deutschland schon länger diskutiert wird. Etwa die Kastration von Ferkeln ohne Betäubung oder das Abschneiden von Ringelschwänzen. Letzteres ist eigentlich schon verboten, wird aber auf Grundlage von Ausnahmeregeln immer noch sehr häufig praktiziert.
Auf EU-Ebene ist der Tierschutz bisher kaum verankert, doch das will Brüssel nun ändern. Der Vorschlag der EU-Kommission für die Agrarreform definiert dafür erstmals neun Ziele. Die Mitgliedsstaaten sollen verpflichtet werden, eine Strategie für die Umsetzung von Tierschutzprogrammen zu entwickeln. Wissenschaftler schätzen, dass allein in Deutschland für eine bessere Tierhaltung jährlich drei bis fünf Milliarden Euro aufgebracht werden müssten.