Agenda 2017:So wird die Arbeitswelt gerechter

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Gleiche Rechte für alle Arbeitnehmer? Die Agenda 2017 macht Vorschläge für Verbesserungen in Büros und Fabriken.

(Foto: dpa)

Der Mindestlohn kommt wohl - aber sorgt er auch dafür, dass sich die Lage der Beschäftigten in Deutschland spürbar verbessert? Und was ist mit den Aufstockern und den Zeit- und Leiharbeitern? Im Rahmen der Agenda 2017 haben wir analysiert, was geschehen muss, damit wieder mehr Menschen vernünftig von ihrem Einkommen leben können.

Von Mirjam Hauck

Der Mindestlohn kommt wohl. CDU-Arbeitsministerin Ursula von der Leyen will ihn, ebenso der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel. "Es gibt keine große Koalition mit der Zustimmung der SPD ohne einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn", sagte er kürzlich.

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Nach der Bundestagswahl haben wir das Projekt Agenda 2017 gestartet. Dieser Text ist Teil einer Reihe von Beiträgen, die den Abschluss dieser Sonderausgabe von Die Recherche bilden. Alles zur Agenda 2017 finden Sie hier, alles zum Format Die Recherche hier.

Es tut sich etwas in einem Land, in dem 1,3 Millionen Menschen aufstocken müssen, weil ihr Einkommen unter dem Existenzminium liegt. In einem Land, in dem 2,7 Millionen Arbeitnehmer zusätzlich zu ihrer regulären Hauptbeschäftigung einem Minijob nachgehen. Deutschland ist mittlerweile ein Niedriglohnland, in manchen Branchen machen Geringverdiener mehr als 80 Prozent aus. Immer weniger Menschen können von ihrem Einkommen vernünftig leben.

Wie sich das ändern kann, darüber haben Betroffene, Experten und LeserInnen im Oktober auf Süddeutsche.de im Rahmen unseres Projekts Agenda 2017 von Die Recherche diskutiert.

Deutschland braucht den Mindestlohn

Die Forderung nach einem Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro war einer der Schwerpunkte der Debatte. Eine Forderung, die nicht unumstritten blieb, die aber berechtigt ist: Der Mindestlohn reduziert die Ungleichheit bei den Lohneinkommen und verhindert extrem niedrige Löhne am unteren Ende des Spektrums.

Tatsächlich verdienen 17 Prozent der Erwerbstätigen, fast sechs Millionen Arbeitnehmer in Deutschland, weniger als 8,50 Euro pro Stunde. Sie sind vor allem im Handels- und Dienstleistungssektor wie der Gastronomie und in Sozial- und Pflegeberufen beschäftigt. Einer Studie des Deutsches Instituts für Wirtschaftsforschung zufolge würde dieser Mindestlohn den Bruttostundenverdienst der Betroffenen im Durchschnitt um 35 Prozent erhöhen.

Allerdings wäre es gefährlich, zu viele Hoffnungen in das inzwischen mehrheitlich konsensfähige arbeitsmarktpolitische Instrument zu setzen. Der Mindestlohn allein trägt nicht nennenswert zur Reduzierung der Armut bei, wenn man die tatsächlich verfügbaren Haushaltseinkommen betrachtet. Denn das Steuer- und Transfersystem wird einen großen Teil des Einkommensanstiegs durch den Mindestlohn egalisieren, entweder weil Transferleistungen reduziert oder höhere Steuern gezahlt werden.

Probleme, die die Einführung eines Mindestlohns mit sich bringen würde, sind nach wie vor ungelöst - wie etwa das unterschiedliche Lohnniveau in Ost- und Westdeutschland. Aber ein wie zum Beispiel von Joachim Möller, dem Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, vorgeschlagener West-Mindestlohn von 8,19 Euro und 7,50 Euro im Osten wäre politisch kaum durchsetzbar. 23 Jahre nach der deutschen Einheit werden das weder Union noch SPD ihrer Wählerschaft in Ostdeutschland vermitteln können und wollen.

Und dann ist da noch die Wirtschaft, die naturgemäß vom Mindestlohn gar nichts hält. Der Präsident des Arbeitgeberverbandes BdA, Dieter Hundt, drohte unlängst mit einer Klage und warnte vor "Arbeitsplatzvernichtung". Seit jeher ist die Forderung nach einem Mindestlohn mit den Sorgen um Stellenabbau oder Verlagerung von Produktionsstandorten ins Ausland verbunden. Auch eine andere Folge des Mindestlohns ist denkbar: Lohnerhöhungen können dazu führen, dass Arbeitgeber den Leistungsdruck auf Arbeitnehmer erhöhen, um so die Mehrkosten einzusparen.

Angesichts der deutschen Befürchtungen und Drohkulissen ist ein Blick ins Ausland aufschlussreich. In Großbritannien beispielsweise wurde der Mindestlohn 1999 eingeführt. Derzeit beträgt er etwa 5,52 Pfund (7,60 Euro), für Jugendliche etwas weniger. Studien dort haben ergeben, dass es keine sogenannten negativen Beschäftigungsergebnisse gab, also Unternehmen massenhaft ihre gering bezahlten Mitarbeiter entlassen haben.

Der Mindestlohn hat keinerlei Schaden angerichtet - im Gegenteil. Das Lohnniveau hat sich wie erhofft erhöht und zugleich hat sich zusätzlich die Lohndifferenz zwischen Männern und Frauen verringert. Und das ist ein Effekt, den Arbeitnehmerinnen in Deutschland sicher auch gerne mitnehmen würden.

Der Mindestlohn hilft - aber er reicht nicht. Denn auch mit 8,50 Euro pro Stunde werden nicht alle Arbeitnehmer von ihrer Arbeit leben können.

Mehr Gerechtigkeit für Aufstocker, Leih- und Zeitarbeiter

Aufstocken begrenzen

Etwa 1,3 Millionen Menschen verdienen in Deutschland so wenig, dass sie zusätzlich zu ihrem Lohn noch Geld vom Staat bekommen, sie müssen aufstocken.

Experten erwarten, dass die Zahl der Aufstocker zwar abnehmen wird, das Phänomen wird aber nicht gänzlich verschwinden. Die Bundesagentur für Arbeit hält aber eine Verringerung um 300.000 Aufstocker für realistisch.

Eine alleinerziehende Friseurin mit zwei Kindern wird weiterhin auf staatliche Unterstützung angewiesen sein - schlicht deswegen, weil sie als Vollzeit-Alleinverdienerin auch mit 8,50 Euro Stundenlohn ihre Familie nicht ernähren können wird. 80 Prozent der Aufstocker mit Vollzeitstellen müssen deshalb nicht aufstocken, weil sie weniger als 8,50 Euro in der Stunde verdienen, sondern weil sie andere Personen in ihrem Haushalt mitversorgen müssen. Diese Menschen würden nicht oder zumindest nicht ausreichend von einem Mindestlohn profitieren.

Dennoch ist es sinnvoll, die Praxis des Aufstockens stark zu regulieren. Denn letztlich sind es vor allem die Unternehmen, die von der Lohnsubventionierung durch den Staat profitieren. Sie können die Löhne bis unter das Existenzminimum senken, weil sie darauf setzen, dass der Staat die finanzielle Lücke schließen wird.

Auch hier steht die Sorge um Stellenabbau im Raum. Und tatsächlich könnte es sein, dass dann Arbeitsplätze wegfallen. Es wären aber Jobs, deren Verlust zu verschmerzen wäre. Auf Arbeit, die nicht so wertgeschätzt wird, dass Menschen davon leben können, sollte die Gesellschaft und damit auch die Politik verzichten können.

Leih- und Zeitarbeit sowie Werkverträge regulieren

Neben dem Mindestlohn gibt es weitere Baustellen für die künftige Bundesregierung: Die oft prekären Beschäftigungsverhältnisse wie Leih- und Zeitarbeit sowie Werkverträge. Der DGB-Report des Deutschen Gewerkschaftsbunds hat es vorgerechnet: Ein festangestellter Staplerfahrer in Bayern verdient circa 18 Euro die Stunde, einer in Leiharbeit 11,50 Euro und einer mit Werkvertrag neun Euro die Stunde. Das Unbehagen über prekäre Beschäftigungsverhältnisse wächst.

Zeit-, Leiharbeit und Werkverträge sind Instrumente, die mit der Agenda 2010 populär wurden. Sie ermöglichen es Unternehmen, je nach Auftragslage flexibel zu reagieren. Andererseits bieten sie Langzeitarbeitslosen und Geringqualifizierten die Chance, wieder ins Erwerbsleben einzusteigen. Tatsächlich sind durch diese Maßnahmen neue Jobs entstanden. Allerdings in der Regel solche, in denen die Beschäftigten nicht das Gleiche verdienen und nicht die gleichen Rechte haben wie die Stammbelegschaft - oft fehlen Kündigungsschutz, Urlaubsanspruch und Mitbestimmungmöglichkeiten.

Und es gab und gibt auch Missbrauch: Menschen, die über Jahre hinweg nur befristete Leiharbeitsverträge bekommen; Unternehmen, die ihrer Stammbelegschaft kündigen und sie dann über eine neue Gesellschaft als Leiharbeiter zu schlechteren Konditionen wieder anstellen - wie es Schlecker einst versuchte.

Mittlerweile gibt es in diesem Bereich einige Regulierungen, die die Arbeitnehmerrechte stärken. In einem aktuellen Urteil hat beispielsweise das Bundearbeitsgericht entschieden, dass Betriebsräte künftig ihre Zustimmung verweigern können, wenn ein Unternehmen längerfristig Leiharbeiter beschäftigen will. Seit 2004 war die Überlassungsdauer eines Zeitarbeitnehmers an einen Entleihbetrieb gesetzlich nicht mehr begrenzt. Im Gesetz fand sich lediglich die Einschränkung, dass die Überlassung nur "vorübergehend" sein darf. Zehn Jahre sind aber nicht mehr "vorübergehend", hielt das das Bundesarbeitsgericht fest.

Außerdem gibt es inzwischen neue Tarifverträge für die Zeitarbeitsbranche und für Beschäftigte mit Werkvertrag. Allerdings ging die Initiative hier nicht von der Politik aus, die Tarifautonomie kam hier zum Tragen - ohne staatliche Eingriffe.

Die SPD will hier weiter regulieren. So soll die Beschäftigungsdauer eines Leiharbeitnehmers wie auch die Gesamtzahl aller Leiharbeiter in einem Betrieb begrenzt werden. Zudem sollen Stammbeschäftigte und Leiharbeiter nach einer Einarbeitungszeit die gleiche Bezahlung erhalten. Maßnahmen, die den Unternehmen noch genügend Freiraum lassen, die aber helfen würden, Missbrauch in Zukunft besser einzudämmen.

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Dieser Artikel bildet den Abschluss des Themenstrangs "Mindestlohn und prekäre Beschäftigungsverhältnisse" unserer Agenda 2017. Angesichts der Vielzahl von Ideen, die Leser via Mail, Facebook, Twitter oder in der Online-Debatte vorgeschlagen haben, konnten wir nicht alle in diesem Text aufgreifen. Er soll ohnehin eine Anregung zum Weiterdiskutieren sein: Debattieren Sie in den Kommentaren, via Twitter oder in unserer Facebook-Gruppe oder mailen Sie uns. Wer sich noch weiter in das Thema einlesen will, findet hier eine Materialsammlung.

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