Süddeutsche Zeitung

Ärger um Heinrich von Pierer:Die Undankbaren und der stille Dulder

Heinrich von Pierer steht vor einem Showdown mit Siemens und der Staatsanwaltschaft. Der Ex-Konzernchef fühlt sich ungerecht behandelt.

Hans Leyendecker und Klaus Ott

Alles war wie früher. Heinrich von Pierer war nur Gast auf einer Feier, doch die anderen drängten sich um ihn. Otto Wiesheu, der ehemalige bayerische Wirtschaftsminister, der ein paar Tage nach seinem 65. Geburtstag zum Oberwirt in Kirchdorf an der Amper eingeladen hatte, begrüßte den früheren Siemens-Chef sehr freundlich: "Ich habe nach wie vor großen Respekt vor Ihrer unternehmerischen Leistung bei Siemens und davor, was Sie als Berater bei vielen Gelegenheiten für die Politik geleistet haben. Ich bin sehr froh, dass Sie unter den Gästen sind." Es gab großen Beifall. Das war vor zwei Wochen.

Wenn Journalisten dieser Tage Vorstände großer Unternehmen nach Pierer befragen, kann es passieren, dass das Gegenüber einen in eine stille Ecke zieht und dann loslegt: "Unglaublich, dass die Münchner ihn wie einen Aussätzigen behandeln."

Von "Lebensleistung" ist dann gewöhnlich die Rede und davon, dass diejenigen "am undankbarsten" seien, die sich früher in "seiner Nähe gesonnt" hätten. Und dann folgt meist die Bitte, nicht namentlich genannt zu werden.

Früherer Herrscher der Deutschland AG

Manchmal greift auch einer zur Feder, wie neulich Hermann Scholl, Aufsichtsratschef des Technologiekonzerns Bosch, und teilt Pierer in einem persönlichen Brieflein mit, dass er das Verhalten der Siemens-Spitze und insbesondere des dortigen Aufsichtsrats schofelig finde. Die anderen sollten mal darüber nachdenken, dass Pierer für vergleichsweise bescheidenes Salär das Unternehmen lange erfolgreich geführt habe.

Die und er. Die Undankbaren und der stille Dulder. Der 68 Jahre alte frühere Herrscher der Deutschland AG, der im Vorjahr eher unbestimmt "die politische Verantwortung" für den Korruptionsfall Siemens übernommen hat, erlebt derzeit München als Feindesland.

Die dortige Staatsanwaltschaft will einen Bußgeldbescheid gegen ihn erlassen. Pierer wird wohl Einspruch einlegen. Über die Münchner Richterin, die den Fall auf den Tisch bekäme, geht der Spruch, dass in ihrem Saal "die Tränen gefrieren" würden. Eiszeit in der Landeshauptstadt: Pierers Ex-Arbeitgeber verlangt sechs Millionen Euro Schadenersatz, weil er seine Pflichten als Vorstandschef verletzt und so die Schmiergeldsysteme ermöglicht habe.

Hausverbot für "Mr. Siemens"

Pierer widerspricht. Wenn er jetzt nicht zahlt, will die Konzernleitung den entstandenen Schaden einklagen: Eine Milliarde Euro, zwei Milliarden Euro - wie viel soll es denn sein? Bei Siemens in der Konzernzentrale am Wittelsbacherplatz hat "Mr. Siemens" Hausverbot.

Sind die denn verrückt geworden? Mit der Süddeutschen Zeitung mag er über seinen Fall nicht reden. Die von der SZ hätten sich zum Sprachrohr von Siemens machen lassen, glaubt er. Die Berichterstattung erinnere ihn an das Neue Deutschland. Das neue Deutschland der Wirtschaft mit den Aufpassern der amerikanischen Börsenaufsicht, den verschärften Haftungsregeln für Vorstände und Aufsichtsräte und knallharten Sanktionen bei Verstößen ist eine andere Welt als die alte Welt mit den Vorschriften, die dann doch nicht immer galten.

Dass bei Siemens der Anti-Korruptionsbeauftragte Peter Solmssen im Vorstand sitzt und auch noch einen amerikanischen Pass hat, sage doch genug. Sagen manche Alten.

In "konzentrischen Kreisen" um die Landeshauptstadt, hat Pierer der Buchautorin Barbara Nolte mal verraten, nehme "die Diffamierung" gegen ihn ab.

Verschwörungstheorien in Erlangen

In Erlangen sei sie bei null. Dort lebt Pierer schon viele Jahre, und manche der etwa 25.000 Siemens-Mitarbeiter in der Stadt haben Verschwörungstheorien: Der Angriff des eigenen Hauses auf den Mann, der zwischen 1992 und 2005 Siemens-Chef war und danach für zwei Jahre den Aufsichtsrat führte, diene eigentlich nur dem Zweck, den 162 Jahre alten Konzern übernahmereif für die Amerikaner zu schießen: General Electric werde die Firma schlucken, wird gemutmaßt. Mit Pierer würde so etwas nie passieren.

Früher gab es bei Siemens den Spruch, dass über dem bekennenden Franken nur der Papst stehe, wenn überhaupt. Pierer beriet Helmut Kohl, Gerhard Schröder, Angela Merkel, kümmerte sich nebenbei immer um das Große und Ganze in der Welt, sprach vor der UN-Hauptversammlung in New York und war angeblich sogar als Bundespräsident im Gespräch.

Inzwischen ist es zweieinhalb Jahre her, dass er den Aufsichtsratsvorsitz bei Siemens abgab. Er hat danach den Aufsichtsrat der Deutschen Bank verlassen, den Aufsichtsrat bei Thyssen-Krupp, den Aufsichtsrat bei VW, und die Bundeskanzlerin hat ihn kühl aus dem Innovationsrat verabschiedet.

Von den wirklich Großen dieser Welt steht wohl nur Helmut Schmidt in ungebrochener Treue zu Pierer. Der sei "ein bisschen sehr schlecht behandelt worden", sagt der Altkanzler bei jeder Gelegenheit.

Schlecht behandelt? Das Leben ohne Firmenjet, ohne Dienstwagen, ohne großes Büro, ohne rote Teppiche absolviert Ex-Mr.-Siemens, der eine Autobiographie verfassen will, nach außen gelassen.

Er sitzt, unter anderem, noch in den Kontrollgremien des Baukonzerns Hochtief und der türkischen Firmengruppe KOC, lehrt an der Universität in Nürnberg und hat, natürlich in Erlangen, die Pierer Consulting GmbH gegründet.

"Ich war geerdet"

Er hat immer Wert darauf gelegt, nicht dicke zu tun. Wenn es sein musste, schleppte er selbst seine Koffer, und wenn er wissen wollte, was los war, hat er einfach mal drei Mitarbeiter aus verschiedenen Sparten angerufen. "Ich war geerdet", sagt er manchmal.

Das mit den Mitarbeitern hat übrigens Helmut Kohl in seiner Zeit als CDU-Parteichef und als Kanzler auch so gehalten, aber vermutlich fände es Pierer unfair, wenn man noch andere Parallelen anführen würde, die sich bei einem Vergleich der zwei Männer aufdrängen.

Pierer ist Großvater; er hat einen Gemüsegarten mit Melonen, gelben Rüben, Gurken, Kürbissen, aber auch leckeren Himbeeren und prächtigen Tomaten. Manchmal, wenn er doch in München ist, sitzt er bei Bayern München auf der Tribüne oder im Café Luitpold, und er sieht freundlich aus.

Tennis spielt er auch noch, und wenn er bei wichtigen Spielen verliert, ärgert er sich sehr. Mehr Zeit für die Ehefrau, für Kinder, Enkelkinder, die Hobbys und trotzdem noch als Berater für mittelständische Unternehmen im Einsatz - was für ein Segen.

Fehlende Offenheit

Andererseits ist er nicht mal siebzig, und vor allem fühlt er sich nicht fair behandelt. Der größte Widersacher ist ein alter Duzfreund: Gerhard Cromme, 66, auch Großvater, ebenfalls sehr erfahren und weltläufig.

Der frühere Chef von Thyssen-Krupp, der 2007 Pierers Nachfolger an der Spitze des Siemens-Aufsichtsrates wurde, kann beinhart sein. Aus seiner Sicht hat Pierer es ihm gegenüber in der Krise an Offenheit fehlen lassen. Der alte Vorstand habe zumindest bei der Kontrolle versagt, meint Cromme.

Wenn Pierer den Schadenersatz nicht zahlen wolle, müsse der Konzern eben klagen, stellt Cromme fest. Das Aktiengesetz verpflichte den Aufsichtsrat zu diesem Schritt. Der drahtige Pierer darf jedoch nicht unterschätzt werden. Er hat schon manches scheinbar verlorene Tennismatch gedreht - aber ist dieses Spiel wirklich zu gewinnen?

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Quelle:
SZ vom 20.11.2009/pak
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