Süddeutsche Zeitung

Abgehängte Regionen:Rostgürtel an der Ruhr

Lahmes Internet, hohe Schuldenlast und die Jungen wandern ab: Forscher warnen vor akuten Zukunftsproblemen in 19 deutschen Regionen. Und längst nicht alle liegen im Osten.

Von Markus Balser, Berlin

Was es heißt, in einer armen Stadt zu leben? Die Bürger von Mülheim spüren das längst. Nirgendwo in Nordrhein-Westfalen ist die Pro-Kopf-Verschuldung höher. Zwei Milliarden Euro Gesamtschulden lasten auf der Kommune. Pro Kopf bedeutet das rechnerisch Schulden von 13 000 Euro. Heftig wurde deshalb zuletzt im Stadtrat darüber diskutiert, wie denn die Stadt noch auf einen grünen Zweig kommen solle. Beim öffentlichen Nahverkehr ein paar Millionen sparen? Oder doch Steuern und Abgaben erhöhen? Längst nicht mehr nur auf dem Land sorgen sich Kommunalpolitiker, in einen Teufelskreis zu geraten. Auch in manchen Städten droht ein weiterer Verlust von Standort- und Lebensqualität. Und damit weitere Abwanderung von denen, die gehen können.

Mehrere Studien legten zuletzt nahe, dass in Deutschland vor allem der Osten und ländliche Gegenden in Gefahr sind, den Anschluss zu verlieren. Forscher des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) aus Köln wollten es genauer wissen. In einer Studie warnen sie nun, dass 19 Regionen vor massiven Zukunftsproblemen stehen. Dort gebe es "akuten Handlungsbedarf" für die Politik, heißt es in dem Papier. Elf der bedrohten Regionen liegen in den neuen Bundesländern, vier in Nordrhein-Westfalen entlang der städtisch geprägten Ruhr, dazu kommen Bremerhaven, das Saarland, Schleswig-Holstein Ost und die Westpfalz.

Die Millionenstädte München, Hamburg und Berlin würden Szenarien zufolge vom Wandel der Wirtschaft, von Automatisierung und Digitalisierung weiter stark profitieren. Unternehmen würden sich hier ansiedeln, um Spitzenkräfte anzuwerben, heißt es in dem Papier. "Wirtschaftliche Aktivitäten verlagern sich zunehmend in die Metropolregionen", sagt IW-Direktor Michael Hüther bei der Präsentation der Studie in Berlin. Spiegelbildlich dazu verlören vor allem ländlichere und von starkem Strukturwandel geprägte Regionen an Attraktivität.

Mit gravierenden Folgen: "Das entwertet nicht nur die dort aufgebaute Infrastruktur, sondern führt auch zu sozialen Spannungen", warnt Hüther. Für die Studie untersuchten die Wissenschaftler zusammen mit vier Universitäten die Regionen nach zwölf Indikatoren in den Bereichen Wirtschaft, Demografie und Ausstattung mit Infrastruktur. Überraschende Erkenntnis: Beim Vergleich der Wirtschaftschancen liegen die Schlusslichter in Westdeutschland: Besonders düster sieht es der Studie zufolge in der Region Duisburg/Essen, Emscher-Lippe und Bremerhaven aus.

Bei der Altersstruktur sieht die Studie die Regionen mit den größten Nachteilen in Ostdeutschland. Dort wiesen die Regionen Anhalt-Bitterfeld-Wittenberg, Lausitz-Spreewald, Oberlausitz-Niederschlesien sowie Ost- und Südthüringen ein hohes Durchschnittsalter der Bevölkerung auf, das in den vergangenen Jahren auch noch besonders stark gestiegen sei. Insgesamt sei aber die Abwanderung aus Ostdeutschland gestoppt, sagt Studienautor Jens Südekum von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Es gebe inzwischen auch Rückkehrer, die aus Westdeutschland wieder in den Osten des Landes zögen. Darunter seien vor allem Senioren, aber auch immer mehr junge Familien kämen wegen der stark steigenden Mieten in den Metropolen zurück.

In Italien oder Spanien sind die Unterschiede zwischen den Regionen noch größer

Beim Vergleich der Infrastruktur und der Kommunalfinanzen gibt es bundesweit Probleme. Die drei westdeutschen Regionen Emscher-Lippe, Trier und Westpfalz plagen besonders hohe Verschuldungsquoten. In den ostdeutschen Regionen Altmark, Magdeburg und Halle/Saale bemängeln die Forscher, dass die digitale Infrastruktur "noch in den Kinderschuhen steckt". Abwanderung, Verfall der Immobilienwerte, Unzufriedenheit mit der Infrastruktur und die Überalterung der lokalen Bevölkerung seien beherrschende Themen für alle genannten Regionen.

Im internationalen Vergleich sind die regionalen Unterschiede in Deutschland allerdings noch immer klein. So seien in Italien zwischen dem industriellen Norden und dem strukturschwachen Süden, in Spanien zwischen den Zentren Madrid und Barcelona und in Frankreich und Großbritannien zwischen den Hauptstadtregionen und peripheren Räumen die Unterschiede noch stärker spürbar. Das deutsche Erfolgsmodell dezentraler Wirtschaftsräume gerate aber weiter unter Druck.

Die Experten fordern deshalb ein schnelles Gegensteuern. Besonders stark verschuldeten Kommunen müsse geholfen werden. "Hohe Schulden versperren den Weg zu notwendigen Investitionen", warnt IW-Chef Hüther. Die betroffenen Bundesländer sollten Schuldenerlasse für die Kommunen prüfen, damit die wieder handlungsfähig würden. Zudem müsse deutlich mehr investiert werden. Schon seit den 90er-Jahren seien die kommunalen Investitionen rückläufig. Das müsse sich ändern. "Es könnte sonst in Deutschland zu ähnlichen Ungleichgewichten in der räumlichen Wirtschaftsstruktur kommen", warnt Autor Südekum auch mit Blick auf den sogenannten Rostgürtel in den USA, der von hoher Arbeitslosigkeit und sozialen Spannungen geprägt ist.

Besonders starken Bedarf sehen die Forscher bei Investitionen in die Infrastruktur von Mobilität und Digitalisierung. "Durch eine Verbesserung des Schienennetzes könnten mehr Gemeinden an die Metropolen angebunden werden", sagt Hüther. Auch den Breitbandausbau halten die Wirtschaftsforscher für "essenziell". Denn der Zugang zu schnellem Internet sei nicht nur für Unternehmen unabdingbar, sondern zunehmend auch für private Haushalte. Die Forscher empfehlen deshalb auch einen flächendeckenden Ausbau mit dem superschnellen Mobilfunkstandard 5G, über den in Deutschland noch immer heftig gestritten wird. "Ohne 5G wird es die vollautomatische Fabrik in der Provinz nicht geben", so die Autoren.

Auch bürgerschaftliches Engagement solle gestärkt und Bildungsangebote verbessert werden. "Die Regionalpolitik muss jetzt dringend gegensteuern, sonst werden die gesellschaftlichen Spannungen zunehmen, und es kann zu gefährlichen Abwärtsspiralen kommen", warnt Hüther. Dabei sei es "politisch, gesellschaftlich und ökonomisch fatal, Regionen aufzugeben".

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SZ vom 09.08.2019
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