Abgasskandal:VW holt aus zum Gegenschlag

Volkswagen Whistleblowers Receive End Of November Deadline

VW-Zentrale: Wer wusste, welche Folgen das Dieselproblem haben wird? Wer hätte es wissen können?

(Foto: Sean Gallup/Getty Images)
  • Zahlreiche Aktionäre werfen Volkswagen in 1600 Klagen vor, nicht rechtzeitig über das drohende Diesel-Desaster aufgeklärt worden zu sein. Sie fordern neun Milliarden Euro.
  • Jetzt hat Volkswagen eine 700 Seiten dicke Klageerwiderung vorgelegt.
  • Das Unternehmen versucht darin, zwischen guten Kleinanlegern und bösen Aktionären zu unterscheiden.

Von Max Hägler, Klaus Ott und Angelika Slavik

So sieht also der Versuch eines Gegenschlags aus. Volkswagen hat beim Oberlandesgericht Braunschweig 700 Seiten eingereicht, die dokumentieren sollen, was es wirklich auf sich hat mit der "Dieselthematik". So nennen Vorstandschef Matthias Müller und der Aufsichtsratsvorsitzende Hans Dieter Pötsch die Abgasaffäre. Eine Affäre, die aus Sicht der Konzernspitze gar keine ist. Das Problem liegt vielmehr ganz woanders, jedenfalls aus Sicht von VW.

Das Problem sind inzwischen nicht mehr die in den USA zugegebenen Betrügereien mit manipulierten Abgasmessungen bei Dieselfahrzeugen. Das Problem sind jetzt die vielen Aktionäre, die Schadenersatz verlangen für die Kursverluste ihrer Papiere nach Enthüllung der Verstöße im September 2015 durch die US-Umweltbehörde EPA. Damals waren die Aktien plötzlich sehr viel weniger wert.

Rund neun Milliarden Euro fordern zahlreiche Aktionäre, die rund 1600 Klagen eingereicht haben. Der Vorwurf lautet, die Anleger seien nicht rechtzeitig über das drohende Diesel-Desaster aufgeklärt worden. Tatsächlich gehe es aber um etwas ganz anderes, heißt es im Konzern. Hier spiele sich ein "Umverteilungskampf" ab. Ein Streit zwischen, grob gesagt, Neuinvestoren und Altaktionären. Dies, so die Lesart bei Volkswagen, könnte zu Lasten des Landes Niedersachsen gehen, das bei VW eine wichtige Rolle spielt. Auch Inhaber von Mitarbeiteraktien und andere Kleinaktionäre könnten, so die Sicht der Dinge bei Volkswagen, darunter leiden. In Klartext übersetzt bedeutet das: Hier die guten, braven Kleinanleger, die langfristig investieren. Und dort die bösen Aktionäre, die kurzfristigen Kursgewinnen hinterherjagen würden.

Ob das VW bei Gericht hilft?

Der in Wolfsburg ansässige Konzern behauptet, der Vorstand habe bis zuletzt nichts gewusst von kriminellen Machenschaften. Von Abgasproblemen schon, aber das sei ja etwas ganz anderes gewesen. Was die Frage aufwirft, wie gut oder eher wie schlecht das weltweite Fahrzeugimperium eigentlich organisiert war, wenn von den Manipulationen nichts bis ganz nach oben durchgedrungen sein soll. Wo doch Manager aus der zweiten Etage, der Ebene direkt unter dem Konzernvorstand, spätestens rund zwei Monate vor dem Auffliegen der Betrügereien in Übersee im Bilde gewesen seien. Das zumindest räumt Volkswagen ein. Die Klageerwiderung von Volkswagen enthält eine detaillierte Chronologie der Ereignisse der Jahre 2014 und 2015 aus Sicht des Konzerns.

Es ist die erste derartige Chronik, die der Konzern vorlegt. Eine Chronik, die viele prominente Namen enthält. Martin Winterkorn, damals Vorstandschef. Herbert Diess, Mitte 2015 von BMW in München nach Wolfsburg gekommen. Als Hoffnungsträger, der die Hauptmarke des Unternehmens, VW eben, nach vorne bringen sollte. Und Pötsch, damals Finanzvorstand und kurz nach Beginn der Affäre zum Aufsichtsratschef befördert. Alle haben sie von Abgasproblemen in den USA gewusst und darüber gesprochen, wobei Diess spät mit am Tisch saß. Erst kurz vor Beginn der Affäre. Pardon, "Dieselthematik".

Seinen Lauf genommen hatte das Unheil schon viel früher, Mitte vergangenen Jahrzehnts, als findige Ingenieure bei VW und der Tochter Audi mit dem Betrug begannen. Spätestens 2012 soll Heinz-Jakob Neußer, der später in den Markenvorstand von VW auf- und damit noch mehr in die Nähe von Winterkorn rückte, von der illegalen Software erfahren haben, mit der Abmessungen manipuliert worden waren. Das hat VW bei den US-Behörden zugegeben. Neußers Anwältin äußert sich dazu und zu anderen Vorwürfen nicht.

Ein Arbeitskreis namens "Tread"

Die von VW bei Gericht eingereichte Chronik beginnt aber erst 2014. Am 23. Mai hatte Winterkorn, wie üblich, viele Unterlagen mit ins Wochenende genommen. Zwei bis vier Pilotenkoffer voller Akten waren das in der Regel laut Volkswagen. An diesem Mai-Wochenende hatte er zwei Unterlagen mit Informationen über dramatische Stickoxid-Grenzwertüberschreitungen in den USA mit im Gepäck: Um den Faktor 15 bis 35 gehe es. Die erste Notiz mit diesem Hinweis soll Winterkorn laut VW (an)gelesen haben. Eine zweite, dahinter liegende Notiz mit einem noch viel brisanteren Hinweis will der damalige Chef gar nicht zur Kenntnis genommen haben. Darin hatte es geheißen, es sei zu vermuten, dass die Behörden die VW-Systeme daraufhin untersuchen würden, ob ein sogenanntes "Defeat Device" installiert sei.

Defeat Device, so heißt die Software, die Volkswagen in den USA mehr als 20 Milliarden Euro an Schadenersatz für Autokunden und Strafen gekostet hat. Diese Software erkennt, ob ein Fahrzeug auf einem Prüfstand steht. Bei den Messreihen der Behörden also. Dann läuft die Abgasreinigung optimal, im Straßenverkehr wird sie aber weitgehend abgeschaltet. Was Aufwand, Mühe und Kosten senkt. So funktionierte der Betrug, von dem die Konzernspitze nichts gewusst haben will. Ganz abgesehen davon, dass Winterkorn am 24. Mai Geburtstag hat und an so einem Tag wohl lieber feiert statt Akten zu lesen, die ihm tags zuvor eingepackt worden sind: Wie soll ein Vorstandschef an Wochenenden den Inhalt von zwei bis vier Pilotenkoffern vernünftig durcharbeiten? Da liegt die Vermutung nahe, dass Volkswagen falsch organisiert war. Das nur nebenbei.

Im Kern sagt Volkswagen, niemand aus dem Konzernvorstand habe vor dem 18. September 2015 die Dimension des Problems mit den Dieselmotoren gekannt

Vom Mai 2015 an waren Abgasprobleme in den USA in der VW-Spitze wiederholt ein Thema. Winterkorn und Pötsch unterhielten sich darüber (siehe "Ein Problem mit US-Behörden"), später kam auch Diess ins Spiel. Auf dieser Ebene, ganz oben, soll aber immer nur von Abgasproblemen die Rede gewesen sein, ohne Erkenntnisse über Betrug und Manipulation. Diess, neu im Konzern, soll angeboten haben, sich bei Gesprächen mit den US-Behörden "unterstützend ... einzubringen". Im Kern sagt Volkswagen, niemand aus dem Konzernvorstand habe vor dem 18. September 2015 die Dimension des Problems mit den Dieselmotoren gekannt; oder hätte überhaupt die Möglichkeit dazu gehabt, die Brisanz zu erkennen.

Die VW-Chronik offenbart aber auch, was am 21. Juli 2015 in einem Arbeitskreis namens "Tread" besprochen worden sei. Damals seien die in die Manipulationen involvierten Personen aufgrund des steigenden Drucks der Behörden in den USA gezwungen gewesen, einem "breiteren Kreis von Personen offen zu legen", dass eine veränderte Software für die Motorsteuerung die Ursache für die Unregelmäßigkeiten bei den Abgasuntersuchungen in Übersee gewesen wäre. Diese Personen hätten intern bei dem Tread-Treffen erläutern müssen, wie die "Umschaltlogik" funktionierte.

Gemeint ist die Umschaltlogik zwischen Prüfstand und Straße. Bei dem Tread-Treffen waren führende Vertreter aus dem Konzern dabei gewesen. Auch Neußer, inzwischen Vorstand der Marke VW. Ulrich Hackenberg, Entwicklungsvorstand bei der Tochter Audi und noch näher dran an Winterkorn. Hackenberg hat bei den Ermittlern ausgesagt, er habe erst später von den Manipulationen erfahren, nach deren Auffliegen. In der VW-Chronik wird das Treffen vom 21. Juli 2015 anders geschildert. Bei dieser Sitzung soll laut VW sogar beschlossen worden sein, "das Abgasthema offen mit den US-Behörden zu besprechen, eigene Fehler einzuräumen und alle Fragen umfassend und zutreffend zu beantworten". Doch es dauerte noch bis Anfang September 2015, bis VW die Verstöße bei US-Behörden zugab. Aber selbst dann, so die Sicht des Konzerns, hätten die Aktionäre nicht informiert werden müssen.

Hätte der Vorstand vor dem 18. September die Dimension des Diesel-Desasters erkannt, hätte man sich selbst von der Pflicht befreit, die Börse unterrichten zu müssen. Alles in Ordnung also.

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