VW-Abgas-Skandal und die Folgen:Nie mehr rumschreien

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Einer spricht, alle hören zu: Betriebsversammlung bei Volkswagen AG im Juli 2014. (Foto: dpa)
  • Strenge Hierarchien führten Volkswagen in den Abgas-Skandal - und tief in die Krise.
  • Viele Unternehmen brechen solche Strukturen auf und machen damit gute Erfahrungen.

Analyse von Caspar Busse und Alexander Hagelüken

Wer aufgemuckt hat, ist niedergebrüllt worden": so beschreiben VW-Mitarbeiter das Klima in dem Autokonzern, das einige für die illegalen Abgas-Manipulationen mitverantwortlich macht. "Zu strikte Hierarchien und eine Tendenz zum Größenwahn erzeugen ein autoritäres System", analysiert der Münchner Psychologieprofessor Dieter Frey. "Es unterbleibt das kritische Denken im Sinne von Karl Popper. Wenn grundsätzlich die Hierarchie obsiegt, hat die Macht des Arguments wenig Chancen - und damit die Suche nach der besten Lösung."

Bei VW wählten ein paar Entscheidungsträger als vermeintlich beste Lösung eine illegale, die nun die Existenz des Konzerns bedroht. "Es ist erstaunlich, dass so ein Risiko eingegangen wurde, um ein paar Euro zu sparen", findet Guido Hertel, Direktor des Instituts für Psychologie an der Uni Münster. "Das kann daran liegen, dass bestimmte Manager einsam entschieden, den eingeschlagenen Weg nicht zu verlassen, um nicht das Gesicht zu verlieren."

Der neue VW-Vorstandschef Matthias Müller kündigt jetzt eine Kultur an, in der frisches Denken und Zweifel erlaubt sein sollen. Er tut damit zumindest so, als ob er einen Weg einschlagen will, über den immer mehr deutsche Großfirmen nachdenken: Sind die Mitarbeiter vielleicht produktiver und innovativer, wenn man die alten Kommandostrukturen aufweicht?

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"Wenn eine Firma militärisch organisiert ist und keine Fehler erlaubt sind, funktioniert das in der modernen Welt oft nicht mehr", glaubt Hertel. Globalisierung, Digitalisierung und kürzere Produktzyklen sprächen dafür, die Mitarbeiter stärker an Entscheidungen zu beteiligen. Die Firmen würden so schneller und effektiver: "Viele Konzerne führen flache Projektstrukturen ein, um flexibel und innovativ zu sein".

Dieter Frey, der an der Münchner Universität ein Zentrum für Mitarbeiterführung leitet, beobachtet Unterschiede. Während sich Konzerne wie SAP, Munich Re oder BMW weiterentwickelt hätten, gäbe es "Klassiker der Hierarchie" wie Siemens, Deutsche Bank - oder Thyssen-Krupp.

Bei dem angeschlagenen Stahlkonzern versucht Heinrich Hiesinger seit 2011, die strengen Strukturen zu lockern. Er bemerkte anfangs, dass keiner zu ihm in den Aufzug stieg. Dem Chef kam man lieber nicht zu nahe. Es gab blinde Gefolgschaft und geschlossene Führungszirkel, erzählte Hiesinger mal: "Als ich das erste Mal zu unserer Problembaustelle nach Brasilien reiste, wurde mir dezent die Frage gestellt, ob man das Projekt wie bisher beschreiben solle oder ob ich die Wahrheit hören wolle."

Dieses Klima hätte den Konzern fast die Existenz gekostet. Zu ändern ist es trotzdem nicht so leicht, wie sich jetzt auch bei VW zeigen könnte. Eine sehr hierarchische Struktur ist für Führungskräfte erst einmal praktisch, weil sie ihnen große Kontrolle und hohe Vorhersagbarkeit dessen ermöglicht, was in der Firma passiert. Psychologe Hertel weist darauf hin, dass Hierarchie nach den Theorien von Max Weber jahrzehntelang als Vorzeigemodell galt.

In einigen Fällen entsteht die Befehlskultur durch die Konzentration auf einen bestimmten Wert. Der Frankfurter Sozialpsychologe Rolf van Dick schildert das am Beispiel Lufthansa: Für die habe Sicherheit ihrer Flüge stets an erster Stelle gestanden, weshalb auf jeder Ebene der Firma sehr stark kontrolliert werde. "Marketing und Kundensparten waren auch von der Kontrollkultur erfasst und deshalb nicht frei genug, um innovativ zu sein" - und der Herausforderung durch neue Billigrivalen zu begegnen. Vorstandschef Carsten Spohr will die Kultur nun ändern: weg vom überheblichen Lufthansa-Image, hin zu mehr Kundenfreundlichkeit.

Führungskräfte auf allen Ebenen müssen lernen loszulassen

Was kann eine Firma tun, um die Kontrollstrukturen zu lockern? Psychologe van Dick schlägt vor, einfach eine Führungsebene herauszunehmen. "Außerdem müssen Führungskräfte auf allen Ebenen lernen, loszulassen." Psychologe Hertel empfiehlt, Entscheidungsprozesse offenzulegen, das Hinterfragen von Strategien zu ermutigen - und Widerspruch. Dafür sei Vertrauen wichtig, woran es bei Volkswagen offenbar fehlte: "Nur wenn ein Mitarbeiter sich sicher fühlt, dass er widersprechen kann, ohne sanktioniert zu werden, entstehen neue Ideen."

Post-Chef Frank Appel behauptet gleich, der ganze Konzern müsse über Vertrauen geführt werden, um die maximale Leistung der Mitarbeiter zu erhalten. "Wenn man Vertrauen geschenkt bekommt, schüttet man Glückshormone aus, ähnlich wie beim Verlieben", glaubt der promovierte Neurobiologe, der 2008 einen Ex-Staatskonzern übernahm, geprägt von strenger Hierarchie. Appel wechselt Mitarbeiter immer wieder aus und versucht, Gespräche über Hierarchien hinweg zu führen. "Am Ende kommt es natürlich darauf an, wie man mit Kritik und eingestandenen Fehlern umgeht", sagt er.

Der Soziologe Norbert Huchler warnt davor, dass Firmen Vertrauen oft zu eng definieren. Es reiche nicht, Mitarbeitern mehr Spielraum bei Entscheidungen zu geben. Die Beschäftigten beurteilten eine Firma danach, wie sie mit ihnen umgehe, wenn sie einen Fehler machten oder mal krank ausfielen. "Nur wenn der Beschäftige erlebt, dass die Firma ihm in kritischen Situationen vertraut, wird er generell mehr leisten. Tut die Firma das nicht, machen die Mitarbeiter nur Dinge, die direkt anerkannt oder honoriert werden."

Beim Münchner Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung untersucht Huchler, wie Firmen Arbeit organisieren. Er beobachtet, dass sich in als modern gepriesenen Organisationsformen wie Zielvereinbarungen oder agilem Projektmanagement oft mehr Hierarchie versteckt als gedacht. Etwa, wenn Mitarbeitern in einem Team der nächste Arbeitsschritt vorgestellt wird und sie abschätzen sollen, wie lange sie brauchen - wodurch ein Unterbietungswettbewerb entsteht. "Das sind letztlich Instrumente, um den Leistungsdruck hochzuhalten. Sie folgen dem Menschenbild, wonach Beschäftigte nichts mehr tun, wenn der Chef weniger kontrolliert."

Mitsprache heißt auch, dass Beschäftigte dabei mitreden, wie viel Personal gebraucht wird

Huchler stellt fest, dass moderne Modelle, die menschenfreundlich nach mehr Mitsprache klingen, den Stress erhöhen können. Wenn sich eine Führungskraft zurückziehe und weniger kontrolliere, aber etwa durch Ziele hoher Leistungsdruck herrsche, übernähmen Mitarbeiter für ihre Aufgabe zuweilen Verantwortung bis zur Selbstüberforderung. Das heißt: Echter Hierarchieabbau und Mitsprache müssten einschließen, dass Beschäftigte dabei mitreden, wie viel Personal gebraucht wird oder wie groß der Leistungsdruck ist.

Ob all die Konzerne, die öffentlich weniger Hierarchien ausrufen, auch so weit gehen wollen, wird sich erst noch zeigen.

© SZ vom 16.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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