Es sind verstörende Nachrichten, die ein amerikanisches Trauma wieder in das Bewusstsein rücken: "Wenn ich nicht bis zwölf Uhr etwas von Dir höre, hole ich Laura von der Schule ab und erzähle ihr, dass ihr Vater tot ist", schreibt jemand am 11. September 2001 um 11:32 Uhr in einer Pager-Nachricht. Wie die Geschichte weitergeht, erfahren wir nicht.
573.000 abgefangene Pager-Nachrichten rund um die Terroranschläge vom 11. September 2001 sind in den vergangenen Stunden auf der Webseite Wikileaks veröffentlicht worden. Wie immer bei Wikileaks, einer Organisation, die sich als Veröffentlichungsmedium für geheime Dokumente betrachtet, ist nicht klar, woher sie kommen. Auch die Echtheit ist nicht gesichert, doch Experten halten sie für authentisch, da erste Nachrichten bereits wiedererkannt wurden.
Nach Angaben von Wikileaks handelt es sich um Nachrichten von Notfallhelfern, besorgten Verwandten, Augenzeugen und FBI-Agenten bis hin zu automatisch generierten Fehlermeldungen von Investmentbank-Computern im World Trade Center. Pager-Nachrichten werden über spezielle Geräte via Funk verbreitet, in Deutschland werden solche Systeme vor allem in der Pflege eingesetzt, in den USA benutzten damals viele Sicherheitsbehörden und Firmen solche Geräte. Während Internetserver und Mobilfunknetze nach dem Angriff in New York und Washington zum Teil zusammenbrachen, funktionierten die Funkrufdienste weiterhin.
Weil Ort, Kontext und Verfasser-Identität der veröffentlichten Pager-Nachrichten fehlen, ergibt sich ein bruchstückhaftes Bild des 11. September. "Lass Dir Zeit. Ich werde nicht vor halb zehn am World Trade Center sein", schreibt ein gewisser Shawn um 7:51 Uhr. Um 8:46 Uhr raste das erste Flugzeug in den Nordturm. Ist Shawn der Katastrophe entgangen? Eine Nachricht von 9:06 Uhr lautet: "Ein zweites Flugzeug ist in den anderen Turm gerast!!!! Hier stimmt etwas nicht !!!!" Ob der Verfasser das Ereignis am Fernsehen verfolgte oder ein Augenzeuge ist, bleibt unklar.
Besorgnis geht in Panik über
Was deutlich wird, ist die Besorgnis nach der Attacke, die bald in Panik übergeht. "Geht es Dir gut? Bitte schick mir eine E-Mail oder rufe an. In welchem Stockwerk ist Josh?" lautet eine Nachricht von 9:16 Uhr. Um 10:55 Uhr schreibt jemand verzweifelt: "Ich rechne gerade aus, wie viel Geld ich von deiner Lebensversicherung bekomme, denn ... wenn du mich nicht anrufst !! um mir zu sagen, dass du nicht tot bist, bringe ich dich um!" Um 11:29 Uhr heißt es: "Ich war auf dem Dach, um das erste Feuer zu sehen, als ich den zweiten Flieger sah, wie er in den zweiten Turm raste. Unglaublich, echt ... ich war drin, als sie zusammenstürzten. Ich bin immer noch in meinem Appartment, kann nirgendwo hin ... das ist das Ende der Welt, wie wir sie kannten."
Neben diesen bedrückenden Zeitzeugnissen, die auf Seiten wie 911stories.net bereits optisch aufbereitet werden, dürfen für Historiker vor allem die Nachrichten interessant sein, die von den Sicherheitsbehörden geschickt wurden. Nach einer ersten Analyse des US-Senders CBS gibt es Indizien, dass große Teile des Sicherheitsapparates nach Mount Weather, der unterirdischen Operationszentrale der amerikanischen Katastrophenhilfe Fema in der Nähe von Washington, verlegt werden sollten. Schon länger hatte es unbestätigte Berichte gegeben, wonach wichtige Politiker und Beamte nach der Nachricht von den Anschlägen dorthin evakuiert worden seien. Die Fema selbst hatte vier Stunden nach dem Anschlag noch keine klare Strategie. "Wir haben noch keinen Einsatzauftrag", heißt es in einer Nachricht von 12:37 Uhr.
In einigen Pager-Texten ist die Rede davon, dass die Sicherheitsbehörden befürchteten, das Flugzeug des US-Präsidenten George W. Bush könne den Terroristen als mögliches Ziel gelten. Um 10:24 Uhr ist jedoch zu lesen: "B Alpha, Twinkle und Turq sind in unserer Verantwortung und sicher." B Alpha ist das Codewort für die Air Force One, Twinkle und Turq stehen für die beiden Töchter des damaligen Präsidenten.
Frage nach der Privatsphäre
Die Nachrichten stammen den Protokollen zufolge alle aus den Netzwerken der Telekomanbieter Arch Wireless, Metrocall, Skytel, und Weblink Wireless. Möglicherweise wurden die Nachrichten seinerzeit durch die Sicherheitsbehörden abgefangen. Das FBI hatte bereits in den neunziger Jahren das Auslesen von Pagernachrichten-Übertragungen als wirksames Mittel zur Bekämpfung der Kriminalität bezeichnet. Wer die Daten weitergegeben hat, könnte bald Gegenstand polizeilicher Ermittlungen sein.
Die Veröffentlichung der Nachrichten dürfte in den USA eine heftige Debatte auslösen. Neben der Frage, welchen Zugriff Behörden auf die private Kommunikation haben dürfen, wird auch die Veröffentlichung privater Daten durch Wikileaks für Gesprächsstoff sorgen. In den Nachrichten finden sich auch private Daten wie komplette Namen, Telefonnummern und Adressen.