Süddeutsche Zeitung

50 Jahre 1968:Wie die Wohlstandskinder 1968 die Wirtschaft veränderten

Die 68er haben Deutschland offener und westlicher gemacht. Doch zu ihrem Erbe gehört auch ein problematischer Antikapitalismus.

Von Nikolaus Piper

Vielleicht bietet sich in diesem Jahr die letzte Gelegenheit, "1968" groß zu zelebrieren. Fünfzig Jahre ist es her, dass sich linke Studenten in West-Berlin, München und anderswo daran machten, ihre Republik zu verändern. Jetzt gehen die Helden von damals in Rente oder sind es bereits. Kein Zweifel besteht daran, dass sie Gesellschaft und Politik der Bundesrepublik von Grund auf verändert haben, die Sexualmoral, die Art miteinander umzugehen, das Verhältnis zur eigenen Geschichte. Die Partei der Grünen, ein Kind der 68er-Bewegung, mischte die Politik in Bonn und Berlin auf. Der Alt-68er Winfried Kretschmann regiert heute als grüner Landesvater das einst tiefschwarze Baden-Württemberg und gilt als beliebtester Politiker der Republik.

Die 68er haben aber nicht nur die Gesellschaft verändert, sondern auch die Wirtschaft und die Art, über Wirtschaft nachzudenken und zu reden. Die Bilanz ist durchaus gemischt.

Einerseits wurde die Bundesrepublik nach 1968 offener und westlicher - Letzteres sicher entgegen der Intention der stramm antiamerikanischen Revolutionäre vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). Das hat der deutschen Wirtschaft sicher nicht geschadet. Es war die Generation der 68er, die den Ausstieg Deutschlands aus der Kernenergie durchsetzte - ein Schritt mit weitreichenden Konsequenzen für die Wirtschaft. Und dann gehört zu deren Erbe auch ein diffuser Antikapitalismus, ein tiefes Unverständnis für die soziale Marktwirtschaft und deren Funktionsweise.

Wichtig für das Verständnis der Bewegung ist die Tatsache, dass es vor allem Wohlstandskinder waren, die 1968 auf die Straße gingen. Noch nie zuvor in der deutschen Geschichte war eine Generation materiell so gut versorgt aufgewachsen wie die nach 1945 Geborenen in der Bundesrepublik. 1968 stand das Wirtschaftswunder nach einer kurzen, milden Rezession wieder in voller Blüte, die Wirtschaft wuchs um 5,5 Prozent, 1969 sogar um 7,5 Prozent, die Arbeitslosigkeit lag bei 0,9 Prozent. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich waren viel kleiner als heute.

Rudi Dutschke träumte den Traum vom Paradies auf Erden

So ähnlich war die Lage fast überall in Westeuropa und Nordamerika, wo in den 60er-Jahren die Studenten auf die Straße gingen. Ihr Protest hatte nicht mit zu wenig, sondern allenfalls mit zu viel Prosperität zu tun, genauer: mit den empörenden Dingen, die trotz Prosperität in der Welt passierten. Besonders klar haben das Lebensgefühl der Generation ein paar Jahre zuvor Delegierte des linken amerikanischen Verbandes Students for a Democratic Society (SDS) in Port Huron (US-Bundesstaat Michigan) aufgeschrieben: "Wir sind Menschen dieser Generation, aufgewachsen in zumindest bescheidenem Wohlstand, die jetzt an den Universitäten zu Hause sind und die mit Unbehagen auf die Welt schauen, die wir erben werden." Autor der "Port-Huron-Erklärung" vom 11. Juni 1962 war der Aktivist Tom Hayden (1939 - 2016), der später als Abgeordneter der Demokraten in Kalifornien und als Ehemann von Jane Fonda bekannt werden sollte. Unbehagen empfanden Hayden und seine Freunde über die Atombombe, die Rassentrennung, den Kolonialismus und den "militärisch-industriellen Komplex". Zur Massenbewegung wurde der Protest dann durch den Vietnam-Krieg.

Auch für die deutschen Studenten war der Wohlstand, in dem sie aufwuchsen, ein Problem. Rudi Dutschke, der wichtigste Wortführer der deutschen Studentenbewegung, sprach von einer "Vergeudungsgesellschaft". In einem Spiegel-Interview, das seinerzeit für viel Aufsehen sorgte, sagte er 1967: "Die für profit- und herrschaftsorientierte Gesellschaftsordnungen typischen Konsumtionsexzesse - Kriege sowie die ungeheuren toten Kosten; Rüstung, unnütze Verwaltung und Bürokratie, unausgenutzte Industriekapazitäten, Reklame - bedeuten eine systematische Kapitalvernichtung. Die wiederum macht es unmöglich, den Garten Eden historisch zu verwirklichen."

Die Sprache sagt viel: Die Studenten hegten einen fast religiösen Glauben, man könne das Paradies auf Erden errichten, verbunden mit der Empörung darüber, dass der Kapitalismus das nicht schafft. Als die Freie Universität Berlin versuchte, mit Zwangsexmatrikulationen dem Problem der Langzeitstudenten Herr zu werden, sah Dutschke das als "sinnlich-unmittelbare Erfahrung der Studenten, dass die kapitalistische Gesellschaft nicht in der Lage ist, Verhältnisse zu begründen, unter denen Menschen ihr Schicksal selbständig bestimmen". Aus diesen Zeilen - sie stehen in einem Aufsatz von 1968 - spricht eine eher konservative denn linke Sehnsucht nach umfassender Versorgung. Sie begleitet einen Teil der deutschen Linken bis heute.

Die amerikanischen Studenten versuchten den Wohlstand tiefenpsychologisch zu deuten. In der Port-Huron-Erklärung heißt es: "Einige wollen uns glauben machen, dass die Amerikaner Zufriedenheit ob ihres Wohlstands fühlen. Aber sollte man dies nicht eher einen Firnis über tief sitzenden Ängsten vor ihrer Rolle in der neuen Welt nennen?" Die Studenten hofften darauf, dass aus diesen Ängsten eine revolutionäre Bewegung entstehen könnte. Ein folgenreicher Irrtum. Amerikaner, die Angst um ihr Land und ihre Zukunft haben, wählten 1968 Richard Nixon, 1980 Ronald Reagan und 2016 Donald Trump.

Die Studentenbewegung der 60er-Jahre wird heute meist als irgendwie marxistisch wahrgenommen. Das ist nicht falsch, viel wichtiger als Karl Marx waren jedoch, wenigstens für die Belesenen unter den Protestierenden, zwei andere Denker: der französische Arzt und Revolutionär Frantz Fanon, der den Aufstand der Unterdrückten aus der Dritten Welt gegen die früheren Kolonialherren predigte. Und der deutsch-amerikanische Philosoph Herbert Marcuse (1898 - 1979). Marcuse, geboren in Berlin und Mitglied am Frankfurter Institut für Sozialforschung, emigrierte 1933 in die Vereinigten Staaten und lehrte an der Universität von Kalifornien in San Diego. In seinem Buch "Der eindimensionale Mensch" von 1964 behauptet er, die westlichen Industriegesellschaften seien in Wirklichkeit totalitär, weil sie mit ihrem Wohlstand den Wunsch nach einer anderen, besseren Welt ersticken. Wenn Arbeiter sich die gleichen Konsumgüter leisten konnten wie die Chefs, dann deute "diese Angleichung nicht auf das Verschwinden der Klassen hin, sondern auf das Ausmaß, in dem die Bevölkerung an den Bedürfnissen und Befriedigungen teilhat, die der Erhaltung des Bestehenden dienen".

Für die Studenten bedeutete dies: Vergesst die alte Arbeiterklasse mit ihrem "falschen Bewusstsein" und wendet euch den "Randgruppen" der Gesellschaft zu, Sozialhilfe-Empfängern zum Beispiel. Die linke Journalistin Ulrike Meinhof beschäftigte sich mit schwer erziehbaren Kindern, ehe sie zur Terroristin wurde

Im September 1969 schien es kurz, als springe der revolutionäre Funke von den Studenten doch noch auf die Arbeiter über. Bei Hoesch in Dortmund traten Stahlwerker in den "wilden Streik", sie legten die Arbeit nieder ohne Urabstimmung, ohne offiziellen Beschluss, vor allem aber, ohne zuvor von der IG Metall mobilisiert worden zu sein. Daraus wurde eine Welle von Ausständen, an denen sich, unter anderem in der damals noch starken deutschen Stahlindustrie bei Klöckner, Rheinstahl und Mannesmann bis zu 140 000 Arbeiter beteiligten. Für die streikarme Republik war dies ein historischer Bruch und für deren Gewerkschaften ein Schock, vor allem weil die Arbeitgeber binnen Kurzem nachgaben und in Lohnerhöhungen um bis zu elf Prozent einwilligten.

In der ersten echten Krise entdeckte die Linke John Maynard Keynes

Die Septemberstreiks gehören bis heute zum Mythos von 68. Tatsächlich hatten die Studenten damit nicht das Geringste zu tun. Den wilden Streiks fehlte alles Revolutionäre, sie waren im Gegenteil ein spätes Stück Wirtschaftswunder. Die Gewerkschaften hatten sich in der Rezession von 1966/67 vernünftigerweise auf Lohnzurückhaltung eingelassen. Der Erfolg war durchschlagend. Die Wirtschaft erholte sich schneller als von den Mutigsten erwartet, die Gewinne sprudelten. Deshalb wurden die Funktionäre der IG Metall von den eigenen Mitgliedern überholt. Die DGB-Gewerkschaften zogen daraus in der folgenden Rezession den fatalen Schluss, besonders aggressiv auftreten zu müssen.

Diese Rezession begann im Herbst 1973. Plötzlich steckte der Kapitalismus in der Krise, auf die die 68er immer gewartet hatten, und zwar genau der "staatsmonopolistische Kapitalismus", gegen den sie einst protestiert hatten: Eine Gesellschaftsordnung, die zwar marktwirtschaftlich ist, in der der Staat aber für Vollbeschäftigung sorgt und zwar nach den Lehren des britischen Ökonomen John Maynard Keynes. Nun gab es plötzlich niedriges Wachstum, hohe Inflation und hohe Arbeitslosigkeit gleichzeitig. Die Mehrheit der Ökonomen zog daraus den Schluss, dass Keynes nicht mehr funktionierte und kehrte wieder zu den althergebrachten Marktmodellen zurück (man nannte das damals "angebotsorientierte Wirtschaftspolitik")

. Dafür entdeckte jetzt die deutsche Linke mit großer Verspätung Keynes für sich. An der Reformuniversität Bremen gründeten die jungen Ökonomen Rudi Hickel, Jörg Huffschmid und Herbert Schui die Gruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Sie sahen sich als Antipoden des offiziellen Sachverständigenrats und vertraten einen Keynesianismus, der durch Rückgriffe auf Karl Marx (Hickel hatte 1970 die erste westdeutsche Ausgabe des "Kapitals" von Marx herausgegeben) modifiziert wurde. Die Ökonomen legten am 4. November 1975 ihr erstes "Memorandum" vor. Darin fordern sie höhere Sozialleistungen und schuldenfinanzierte Ausgabenprogramme, um für Wachstum zu sorgen. Die Arbeitsgruppe gibt es bis heute. Sie legte regelmäßig zum Tag der Arbeit ein neues Memorandum vor.

Eigentlich steht das im Kern auf Wachstumspolitik angelegte Programm der Memorandum-Gruppe in diametralem Gegensatz zur Wachstumskritik der ersten 68er. Trotzdem werden heute bei Grünen und Teilen der SPD immer noch beide Positionen nebeneinander vertreten. Auch das gehört zu den Widersprüchen, die die 68er ihrem Land hinterlassen haben.

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SZ vom 03.02.2018
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