Euro-Debatte:Europa muss zu unserer Heimat werden

Refugees and migrants walk towards a bus following their arrival onboard the Eleftherios Venizelos passenger ship at the port of Piraeus, near Athens

Flüchtlinge am Hafen von Piräus in Griechenland

(Foto: REUTERS)

Die Europäer haben gemeinsame Probleme, von der Schuldenkrise bis zur Integration der Flüchtlinge. Nur die gemeinsame Debatte darüber fehlt.

Von Otfried Höffe

Aufgaben, die Europa gemeinsam zu lösen hat, gibt es in Hülle und Fülle. Die einschlägigen Debatten aber - zur Energiewende, vorher zur Währungsunion, später zur Finanzhilfe für Griechenland, neuerdings zu den nichtabreißenden Flüchtlingsströmen - finden, bestenfalls, mit einer vierdimensionalen Exklusion statt.

Als erstes praktizieren die häufigen Ländervergleiche eine "Vertreibung Europäischer Staaten aus dem Europadiskurs". Denn in der Regel fehlen die Nicht-EU-Länder. Dabei werden Werte, auf die Europa stolz ist, auch von Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz geteilt: die politische Freiheit eines demokratischen Rechtsstaates und die aus wachsendem Wohlstand hervorgehende kulturelle und wissenschaftliche Blüte.

Der Autor

Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Otfried Höffe ist Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie der Universität Tübingen. Jüngst erschien: "Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne".

Giorgio Agamben mag für seine Behauptung, Europa sei ein bloßes Wirtschaftsprojekt, Applaus erhalten. Bevor man ihn aber zum "großen europäischen Provokateur" stilisiert, sollte man von ihm ein von Erfahrung gesättigtes Denken einfordern.

Mit dem Leipziger Preisträger "zur europäischen Verständigung" gesprochen, dem Rumänen Mircea Cărtărescu, ist Europa eher ein "universaler Kontinent der Zivilisation und der Kultur". Um nur ein Beispiel zu geben, gedeiht hier eine Museen-, Musik-, Theater und Opernlandschaft, die sich auch im angeblich ökonomisch dominierten Deutschland nicht zu verstecken braucht.

Statt Standardisierung lieber ein Recht auf Differenz

Europa zeichnet sich zweitens auch durch einen Reichtum von Sprachen und Mentalitäten aus, nicht zuletzt durch Konkurrenz. Mit der Intelligenz des listenreichen Odysseus führt man einen steuerlichen, wirtschaftlichen und politischen, oft genug auch kulturellen Kampf um Macht und Vormacht - und um eine Solidarität, sofern sie von anderen finanziert wird. Eine europäische Identität kann daher nicht in bloßen Gemeinsamkeiten bestehen. Weder nationale noch politische Unterschiede dürfen als Faktoren der Verunreinigung wahrgenommen und verworfen werden: Überall dort, wo die Sprache kein kulturneutrales Transportmittel ist, darf man nicht nur in der heutigen lingua franca, dem Englischen, debattieren.

Wer den kulturellen Reichtum Europas bewahren will, muss sich gegen diese Exklusion der anderen Sprachen wehren. Erst in den für eine innereuropäische Kommunikation notwendigen Fremdsprachenkenntnissen zeigt sich die unverzichtbare Haltung wechselseitiger Anerkennung; wer andere Sprachen lernt, sperrt sich gegen nationale Überheblichkeit und öffnet sich andersartigen, trotzdem vielfach vergleichbaren Mentalitäten.

Die seitens der politischen Elite und gebildeten Mittelschicht Europas beim Grenzübertritt gepflegte Geringschätzung der eigenen Sprache dürfte für die dritte, gravierenste Ausschlussbewegung mitverantwortlich sein: für den vorherrschenden Eliten-Diskurs, der die soziale und politische Exklusion großer Bevölkerungsteile aus dem Europa-Diskurs demokratiefeindlicherweise in Kauf nimmt. Denn nach der für unseren Kontinent allein sachgerechten Devise, nicht wie in den USA "e pluribus unum", sondern "in pluribus unum", muss Europa statt des Zwanges zur Hegemonisierung und Standardisierung lieber ein "Recht auf Differenz" pflegen.

Dessen Kern besteht in einer Bereitschaft, die vermutlich europaskeptische Bürger vermissen, in der Bereitschaft zu keiner exklusiven, aber einer komplementären Wertschätzung der eigenen, "nationalen" Kultur. Dafür sind zwei Strategien denkbar. Die eine Strategie belässt dem im Laufe von Generationen gewachsenen eigenen Staat den Vorrang. Sie folgt dem Grundsatz: "So viel eigene, "nationale" (soziale, ökonomische, politische und kulturelle) Kultur wie möglich und nur so viel Europa, wie nötig".

Die andere Strategie kehrt die Priorität um: "So viel Europa wie möglich und so viel "nationale" Kultur wie nötig". Solange der wahre Kern Europas, Frieden und Recht, gewahrt bleiben, verdient offensichtlich keine der beiden Strategien a priori die Priorität. Entscheidend ist vielmehr die Instanz, von der alle Staatsgewalt ausgeht, die Bürgerschaft, das Volk. Wer es für "seine" Strategie gewinnen will, muss alle Bürger des eigenen Landes zu überzeugen.

Wir brauchen eine Debatte über die Sprachgrenzen hinweg

Dabei kommt die vierte Exklusion ins Spiel: Wem Europa mehr als nur ein frommes Wort ist, der muss sich die anderen Länder zumindest anhören: deren Interessen, deren Diagnosen und deren Lösungsvorschläge. Eine breitere Erfahrung fördert, was jeden politischen Diskurs ziert, Nüchternheit und Besonnenheit. Es braucht jedenfalls außer der bislang vorherrschenden binnenstaatlichen auch eine die Staats- und Sprachgrenzen überschreitende Debatte.

Dafür sind vor allem die Medien gefordert. Denn wie soll eine wahrhaft europäische Europa-Debatte geführt werden, wenn die Medien, deren europäische Sprachenvielfalt nicht nur einen Reichtum darstellt, sondern auch eine Barriere schafft, sich nicht in weit höherem Maße den Nachbarn öffnen? Gegen die immer noch vorherrschende Fragmentierung müssen die Medien gewisse Rubriken zu einer eigenen europäischen Gestalt entwickeln, also zu einer eigenen Rubrik "Stimmen der Europäer", einer weiteren "Aus europäischer Feder", einer dritten "Aus europäischen Zeitschriften". Und alle drei Rubriken müssten häufig, in erheblicher Länge und an prominenter Stelle zu lesen sein. Man könnte auch eine neue Kolumne "Unser europäischer Gast" einführen. Und wenn man dabei die gesamte Bürgerschaft überzeugen will, folge man dem Grundsatz einer fairen Debatte: Man lasse sowohl Befürworter als auch Skeptiker, selbst Gegner zu Wort kommen, und in Leserbriefen nehme man die Reaktion des Publikums zur Kenntnis.

Das war die Euro-Debatte in der SZ

Mit dem Beitrag des Philosophen Otfried Höffe endet zunächst die Essayreihe, in der sich über die vergangenen Monate zahlreiche kluge Köpfe aus dem In- und Ausland Gedanken über das Projekt Europa gemacht haben. Viele interessante Überlegungen sind jeweils mittwochs und samstags im Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung ausgebreitet worden, heftig ist gestritten worden. Der "herzlichen Bitte an Deutschland", die der US-Ökonom Jeffrey Sachs am 18. Juli 2015 an dieser Stelle geäußert hat, dem Euro-Mitglied Griechenland im Interesse des großen Ganzen doch bitte seine Schulden zu erlassen, hat die Politik jedenfalls nicht explizit entsprochen, auch wenn die Fristen auf Jahre gedehnt worden sind. Namhafte deutsche Autoren kritisierten den amerikanischen Blick. Otfried Höffe fordert im Beitrag oben eine Öffnung der deutschen Medien für ausländische Autoren und Meinungen. In dieser Reihe ist das geschehen, und die Gastautoren haben mit Vorliebe deutsche Gewissheiten in Frage gestellt. James Galbraith forderte eine Abkehr vom Ziel der schwarzen Null - also vom Etat ohne Schulden. Mark Blyth problematisierte die Exportlastigkeit insbesondere Deutschlands. Lorenzo Bini Smaghi warnte davor, Europa am deutschen Wesen genesen lassen zu wollen. John Cochrane warnte vehement vor einem Austritt Griechenlands aus dem Euro, den Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn ebenso vehement empfiehlt. DIW-Präsident Marcel Fratzscher wiederum drängte die Europäer, einen Teil ihrer Souveränität abzugeben - etwa an einen EU-Finanzminister. Nobelpreisträger Jean Tirole aus Frankreich fordert eine föderale Union mit gemeinsamer Haftung. IW-Direktor Michael Hüther empfahl stattdessen, doch erst einmal das Erreichte zu feiern: die Fiskal- und Bankenunion. Trotz aller Probleme - ein bisschen Optimismus gab es also auch. Marc Beise

Alle Beiträge sind weiterhin nachzulesen auf www.sz.de/szdebatte-griechenland.

Europa muss unsere Heimat werden

Dieser Vorschlag, hier für Zeitungen, eignet sich ebenso gut für die Hundertschaften von Zeitschriften und Magazinen, die jeder bessere Kiosk führt. Ob Frauen- oder Modethemen, ob Auto oder der bunte Strauß von Hobbys - weil bei diesen Gegenständen die nationalen und sprachlichen Grenzen immer weniger zählen, könnte man problemlos aus den verschiedenen Ländern Europas Kolumnisten und Kommentatoren einladen. Vor allem richtet sich diese Forderung an das Radio und das Fernsehen. Warum herrschen hier zum einen die Innen- und Außenpolitik des eigenen Landes, zum anderen Neuigkeiten aus aller Welt vor, während Europa nur auftaucht, wenn es unter eine dieser zwei Rubriken fällt?

Da manche unserer Nachbarn ein beneidenswert gutes Deutsch sprechen, brauchen Radio- und Fernsehgäste nicht einmal immer übersetzt zu werden. Statt dessen heiße man willkommen, woran Briten und US-Amerikaner sich längst gewöhnt haben: Sprecher ohne grammatische und syntaktische Perfektion und mit einem abweichenden Klang, beim Deutschen etwa in der weicheren italienischen oder härteren slawischen Färbung. Wenn im Zuge dieser Debatten - nicht von oben diktiert, sondern von unten gewachsen - sich eine zu nationalen Identitäten komplementäre Europa-Identität herausbildet, dann, aber auch nur dann wird Europa sogar ansatzweise zu einer Heimat.

Es versteht sich, dass "Heimat" hier nicht in seiner emotional hochaufgeladenen Bedeutung gemeint ist, bei der Träume der Kindheit und die Sehnsucht nach einem einfachen Leben mitschwingen. Unseren Kontinent zu einer verklärten Heimat zu machen, wäre nicht visionär, sondern im wörtlichen Sinne utopisch, denn so gut wie alle Menschen müssten sich als heimatlos betrachten. Anders verhält es sich bei einem nüchternen, zugleich aufgeklärten Begriff: "Heimat" nenne man den Lebensraum, der mit dem Elternhaus beginnt, der sich bald auf die Nachbarschaft und nähere Umgebung ausdehnt, der mit wachsendem Alter mitwächst, häufig den Berufs- und Freundeskreis einschließt, vielfach auch den eigenen Sprach- und Kulturraum, spätestens bei geografischer Ferne sogar das Vaterland. Der aufgeklärte Heimatbegriff ist jedenfalls in seiner Ausdehnung offen: Sowohl der geografische und soziale als auch der politische und kulturelle Raum, den man als Heimat erlebt, kann wachsen.

Sind unsere Medien bereit?

Die zahllosen Heimatvertriebenen zeigen, dass man nicht einmal auf die Heimat, in der man geboren wurde, fixiert bleiben muss: Der Brandenburger Theodor Fontane hat hugenottische, also französische Vorfahren. Der Franzose Jean-Claude Izo ist "Marseiller" durch und durch, das heißt "halb-Italiener halb Spanier mit arabischem Blut und Oliven von beiden Seiten". Und Dieter Forte beschreibt in seinem Roman "Das Muster", wie eine italienische Seidenweberfamilie von Lucca über Florenz und Lyon ins Rheinland wandert und sich schließlich mit einer ins Ruhrgebiet eingewanderten polnischen Bergarbeiterfamilie verheiratet.

"Heimat" leitet sich vom Ausdruck "Heim" ab. Es bedeutet ursprünglich ganz unsentimental den Ort, an dem man sich niederlässt, das Lager, oder das Haus, in das man gehört, das Domizil. In diesem Sinne taucht der Ausdruck in Ortsnamen wie Mannheim oder Rosenheim auf, wie im englischen Birmingham, Nottingham oder im schwedischen Varnhem und Gudhem. Später reichert sich der Ausdruck "Heimat" um ein wirtschaftliches und ein rechtliches Moment an, woran sich leicht anknüpfen lässt: Europa ist der Aufenthaltsort, an dem man sein wirtschaftliches Auskommen und vor allem seinen Rechtsschutz findet. In dieser Hinsicht gilt leider, was die Europa-Identität gewiss nicht erleichtert: Innerstaatlich zwar dürfen die (west)europäischen Länder auf ihre Rechtstaatlichkeit stolz sein. In der Europäischen Union dagegen wird unter dem Feigenblatt "Politik" das Recht allzu gern gedehnt, überdehnt, sogar gebrochen. Ein innereuropäischer den gesamten vier Exklusionen trotzenden Bürgerdiskurs sollte dagegen Einspruch erheben. Sind unsere Medien dazu bereit?

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