Proteste gegen hohe Mieten:Wie Enteignungen laufen könnten

Berlin - Wohnblöcke an der Frankfurter Allee

Wohnblöcke in Berlin: Wechseln sie bald den Besitzer?

(Foto: Wolfgang Kumm/dpa)
  • Grund und Boden können in Gemeineigentum überführt werden, steht in Artikel 15 des Grundgesetzes.
  • Die Frage ist, was schwerer wiegt: Artikel 15 oder das Recht auf Eigentum? Wie das Verfassungsgericht entscheiden würde, lasse sich nicht vorhersagen.

Von Wolfgang Janisch

Der Weltgeist hat Humor, das muss man ihm lassen. Seit fast 70 Jahren führt der Sozialismus-Artikel 15 im Grundgesetz das Dasein einer Karibikinsel: immer für ein paar Illusionen gut, aber am Ende eben doch kein Vorbild. Bemerkt haben die Vorschrift bisher höchstens ein paar Jungsozialisten in den frühen 1970er-Jahren, sie träumten von Bankenenteignung. Nun aber, da Castro tot und der Sozialismus weltweit erledigt ist, beschert die Berliner Initiative "Deutsche Wohnen enteignen" der Öffentlichkeit eine Debatte um Vergesellschaftung und Enteignung - pünktlich zum Grundgesetzjubiläum.

Es lohnt sich, den vermeintlichen Rettungsanker in der Wohnungsnot einmal zu lesen. "Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden." Das klingt nach einer ernsthaften Option, und so war es auch gemeint. Im Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat war der sozialistische Weg eben noch nicht historisch diskreditiert. Den Sozialdemokraten ging es darum, "die deutschen Schlüsselindustrien in Gemeineigentum zu überführen", um "den arbeitenden Menschen von den Ungerechtigkeiten dieser Gesellschaftsordnung" zu befreien. Aber auch "Grund und Boden" wurde zu den sozialisierbaren Gütern hinzugefügt. CDU und FDP setzten zwar eine Entschädigungsklausel durch, stellten aber die Ermächtigung zur Sozialisierung nicht infrage.

Aber könnte man damit tatsächlich Abertausende Wohnungen der großen Unternehmen vergesellschaften? In den dicken Grundgesetzkommentaren gibt es ein paar sozialliberale Autoren, die Artikel 15 - der noch nie zum Einsatz gekommen ist - durchaus als Option sehen. Und ein paar konservative, die ihn in den tiefschwarzen Schatten der Eigentumsgarantie stellen. Die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen hat drei Juristen um Gutachten gebeten, darunter den Karlsruher Anwalt Volkert Vorwerk. Sein häufigster Satz zeugt von Klugheit. Wie das Verfassungsgericht entscheiden würde, lasse sich nicht vorhersagen.

Was kostet die Entschädigung? Die Schätzungen reichen von gut sieben bis 36 Milliarden

Klar ist zwar, dass die Wohnungsunternehmen entschädigt werden müssten. Wie hoch diese Summe ausfallen würde, dazu gibt es - je nach Interessenlage - stark schwankende Schätzungen. Den Initiatoren zufolge dürften die Kosten zwischen 7,3 und 13,7 Milliarden Euro liegen, laut amtlicher Kostenschätzung der Senatsverwaltung liegen sie dagegen zwischen 28,8 bis 36 Milliarden Euro. Die Wahrheit dürfte irgendwo dazwischen liegen. Entschädigungen orientieren sich wohl nicht am Verkehrswert, sondern sind Ergebnis einer Abwägung zwischen den Interessen der Allgemeinheit und der Eigentümer, schreibt der Staatsrechtler Joachim Wieland in einem Grundgesetzkommentar. Die Richter könnten also das Ausmaß der Wohnungsnot auf die Waagschale legen; wäre Sozialisierung der wirklich letzte Weg, um Abhilfe zu schaffen, dann könnten die Entschädigungen niedriger ausfallen.

Entscheidend dürfte aber ein anderer Punkt sein. Nämlich die heftig umkämpfte Frage, ob eine Vergesellschaftung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen muss. Wenn ja, dann kann die Initiative ihre Sozialisierungspläne vermutlich wieder einpacken. Denn Verhältnismäßigkeit ist ein scharfes Schwert in der Hand der Juristen. Sie können damit prüfen, ob der ja doch ziemlich drastische Wechsel zur teilweise staatseigenen Wohnungswirtschaft wirklich notwendig ist - oder ob es da nicht mildere Mittel gäbe. Damit wäre den Richtern der Diskurs über Sinn und Unsinn der Aktion eröffnet; im Karlsruher Sitzungssaal würde vermutlich eine breite Phalanx von Sachverständigen aufmarschieren. Ist das Marktversagen in Sachen Vonovia und Deutsche Wohnen wirklich schon so eklatant, dass gleich der Sozialismus ranmuss? Sind nicht doch am Horizont bereits Anzeichen dafür erkennbar, dass der Markt die Dinge wieder in erträgliche Bahnen lenkt? Hat der Staat sein Blatt schon ausgereizt, mit Trümpfen wie Mietpreisbremse, Zweckentfremdungsverbot, Vorkaufsrecht, Kündigungsschutz? Und schließlich: Wäre nicht mehr gewonnen, wenn Berlin die Unsummen, die als Enteignungsentschädigung drohen, in den sozialen Wohnungsbau steckte?

Wie gesagt, es ist offen, ob die Verfassungsrichter diesen Weg gehen. Sie müssten dann, nach 70 Jahren Grundgesetz, eine grundlegende Entscheidung treffen: Dass Eigentumsgarantie und Marktwirtschaft eben doch auf Platz eins stehen und der Sozialismus allenfalls in der zweiten Reihe. Die Offenheit der Wirtschaftssysteme, die die Gründer im Sinn hatten, wäre dahin. Aber vielleicht hat die Geschichte den Richtern die Entscheidung längst abgenommen.

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